Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht: Ohne Soli droht neues Haus­halts­loch

von Dr. Christian Rath

12.11.2024

Wenn die Verfassungsbeschwerde von sechs FDP-Abgeordneten gegen den Solidaritätszuschlag Erfolg hat, fehlen dem Bundeshaushalt 65 Milliarden Euro. Es könnte ein ähnliches Desaster werden wie nach der Schuldenbremsen-Entscheidung 2023.

Für die Freunde absurden Theaters kam diese Verhandlung eine Woche zu spät. Am Dienstag voriger Woche bestand die Ampel-Koalition noch. Christian Lindner (FDP) war noch Finanzminister. Er wäre wohl nicht nach Karlsruhe gekommen, um den Solidaritätszuschlag gegen die Verfassungsbeschwerde von sechs FDP-Abgeordneten zu verteidigen. Hätte Lindner stattdessen seinen parlamentarischen Staatssekretär Florian Toncar (FDP) geschickt? Wohl kaum, denn Toncar ist einer der Kläger. Auch Lindners Staatssekretärin Katja Hessel (FDP) wäre nicht besser geeignet gewesen, denn – na klar – auch sie hat gegen den Soli geklagt.

Doch auch der neue Finanzminister Jörg Kukies (SPD) ließ sich an diesem Dienstag nicht in Karlsruhe sehen, als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nun über die Klage von Tomcar & Co. verhandelte. Die Bundesregierung überließ das Engagement für den Soli vor allem dem grünen Fraktions-Vize Andreas Audretsch. Die Grünen hatten mit Rechtsprofessor Uwe Volkmann in Karlsruhe sogar einen eigenen Rechtsvertreter dabei, was sehr 0ungewöhnlich ist. Für die rot-grüne Bundesregierung sprach Kyrill-Alexander Schwarz, ein eher konservativer Rechtsprofessor aus Würzburg.

Die dritte Ergänzungsabgabe

Der Begriff "Solidaritätszuschlag" steht nicht im Grundgesetz (GG). Dennoch ist der Soli keine neue Erfindung. Vielmehr handelt es sich um eine Ergänzungsabgabe gem. Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG. Eingeführt wurde die Bestimmung durch eine Verfassungsänderung 1955.

Bereits dreimal gab es in Deutschland derartige Ergänzungsabgaben. Der erste Anwendungsfall war 1968 anlässlich der ersten Nachkriegsrezession. Beim zweiten Mal, 1990/1991, nannte man die Ergänzungsabgabe bereits Solidaritätszuschlag. Damals ging es allerdings noch um die Kosten des Golfkriegs und andere außenpolitische Sonderlasten. Erst die dritte Ergänzungsabgabe, der ab 1995 geltende Solidaritätszuschlag, wurde mit den Kosten der Wiedervereinigung begründet. Diese Ergänzungsabgabe gilt heute, fast 30 Jahre später, immer noch.

Der Solidaritätszuschlag betrug zunächst 7,5 Prozent der Einkommensteuerschuld (nicht des Einkommens). 1998 wurde er auf 5,5 Prozent der Steuerschuld gesenkt. Seit 2021 gelten allerdings großzügige Freigrenzen, sodass 90 Prozent der Steuerpflichtigen den Soli nicht mehr bezahlen müssen. Nur wer pro Jahr mehr als rund 18.000 Euro Einkommensteuer bezahlt, muss dazu auch noch den Soli-Zuschlag berappen. Der Soli bringt dem Fiskus aber immer noch rund 12 Milliarden pro Jahr.

Klage der FDP-Abgeordneten

Gegen diese Reform der schwarz-roten Koalition erhoben 2020 sechs FDP-Bundestagsabgeordnete Verfassungsbeschwerde. Neben den bereits erwähnten Toncar und Hessel waren es Katja Suding, Stephan Thomae, Alexander Graf Lambsdorff und Christian Dürr. Dürr ist in der aktuellen Wahlperiode immerhin Fraktionsvorsitzender.

Die FDPler bemängelen vor allem, dass der Soli immer noch erhoben wird, obwohl es keinen Sonderbedarf mehr für den Aufbau Ost gebe. Schon 2019 sei der sogenannte Solidarpakt II zur Finanzierung der Wiedervereinigung ausgelaufen. Die Fortführung des Soli verletze die Kläger daher in ihrem Grundrecht auf Eigentum aus Art. 14 GG.

Außerdem sei ihr Gleichheitsrecht verletzt, argumentieren die FDPler, da nur noch Gutverdienende den Soli zahlen müssen. Dies sei nicht zu begründen, denn die Progression bei der Einkommensteuer berücksichtige bereits die sozialen Unterschiede. Seit 2021 handele sich beim Soli faktisch um eine zusätzliche "Reichensteuer".

Hätte die Klage der FDP-Abgeordneten Erfolg, müsste der Bund den einkommensstarken Steuerzahlern für die Zeit ab 2020 knapp 65 Milliarden Euro zurückzahlen – es wäre ein Haushaltsdesaster. Der FDP-Anwalt Henning Berger von White & Case forderte deshalb am Dienstag das Bundesverfassungsgericht auf, eine "ausgewogene Lösung" zu finden. Dagegen betonte Toncar trotzig: "Die Haushaltsfolgen sind nicht die Schuld der Kläger, sondern des Gesetzgebers."

Argumente für den Soli

Andreas Audretsch versuchte, eine Niederlage in Karlsruhe abzuwenden. Neben den Kosten der Einheit gebe es inzwischen viele neue finanzielle Sonderbedarfe des Bundes, argumentierte er: die Sanierung der Infrastruktur, Verteidigung und Hilfe für die Ukraine, Klimaschutz.

Dass den Soli nur noch Gutverdienende zahlen, sei vom Sozialstaatsgebot gedeckt, so Audretsch. Der SPD-Finanzpolitiker Michael Schrodi ergänzte, im Steuerrecht komme es immer auf die Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen an.

Unterstützung erhielt Audretsch von einem der beiden juristischen Sachverständigen, dem Trierer Rechtsprofessor Henning Tappe. Er sah im GG keinerlei Zweckbindung für "Ergänzungsabgaben" wie den Soli. Dass der Solidarpakt für den Aufbau Ost ausgelaufen ist, habe keinerlei Bedeutung. "Solidarpakt und Solidaritätszuschlag haben nur den Wortteil 'solidar' gemeinsam", sagte Tappe. Entscheidend sei, dass der Bund zusätzlichen Finanzbedarf habe. Eine Ergänzungsabgabe sei auch günstiger für die Bürger, so Tappe. "Wenn der Staat den Mehrbedarf des Bundes über eine Erhöhung der Einkommensteuer decken würde, wäre das für die Steuerzahler doppelt so teuer, denn die Hälfte der Einkommensteuer geht an die Länder."

Zweifelnde Verfassungsrichter

Etwa die Hälfte der Richterinnen und Richter des Zweiten Senats fanden Tappes Grundgesetzauslegung zu uferlos. Holger Wöckel, Peter Frank und Thomas Offenloch vermissten inhaltliche Kriterien. Richterin Christine Langenfeld fragte spitz: "Kann es so etwas wie Dauer-Bedarfsspitzen geben?"

Sie fanden Unterstützung beim zweiten juristischen Sachverständigen, dem Heidelberger Professor Hanno Kube. Kube forderte die Beschränkung einer Ergänzungsabgabe auf vorübergehende "Bedarfsspitzen". Wenn sich diese erledigt haben, müsse die Ergänzungsabgabe wieder abgeschafft werden, sonst werde sie verfassungswidrig. Die Begründung für den Solidaritätszuschlag dürfe auch nicht nachträglich ausgetauscht werden, so Kube.

Den Ausschlag könnte vielleicht ein Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) geben. Es sah im April 2020 noch jährlichen Sonderbedarf von rund 13 Milliarden Euro allein für "teilungsbedingte Lasten", etwa beim Bürgergeld und bei der Rentenversicherung. Doch Kube wollte auch das nicht gelten lassen. "Wenn der Sonderbedarf in einer allgemeinen Deckungslücke aufgeht, ist es kein vorübergehender Sonderbedarf mehr."

Von 1972 lernen?

Hoffnung macht dem Bund vor allem eine frühe Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1972 (Beschl. v. 09.02.1972, Az.: 1 BvL 16/69). Damals entschied Karlsruhe, dass eine Ergänzungsabgabe nicht zeitlich befristet werden muss. Bei neuen Aufgaben könne der Steuerzuschlag auch mit einem neuen Zweck fortgeführt werden. Die Richter ließen ausdrücklich offen, ob es eine verfassungsrechtliche Pflicht gebe, die Ergänzungsabgabe wieder abzuschaffen, wenn die Voraussetzungen "evident" entfallen sind.

Doch vermutlich genügt der Blick in die alte Entscheidung nicht. Die Richterinnen und Richter diskutierten den ganzen Nachmittag sehr lebhaft, welche Sonderlasten im Bildungssystem, bei der Rentenversorgung oder der Energieversorgung in Ostdeutschland noch Folgen der Wiedervereinigung sind.

Das Bundesverfassungsgericht wird sein Urteil in einigen Monaten verkünden. Es dürfte spannend werden - auch für die neue Regierungsmehrheit.

Zitiervorschlag

Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht: . In: Legal Tribune Online, 12.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55847 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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