Zwar wurde in Warschau ein wenig verhandelt, die mit Spannung erwartete Überprüfung zum Rangverhältnis von Verfassungsrecht und EU-Recht hat das polnische Verfassungsgericht aber wieder einmal vertagt. Dahinter steckt durchaus Kalkül.
Vielleicht ist es sehr kleinteilig, würde man schon das Erscheinen des polnischen Verfassungsgerichts am Mittwoch in Warschau als Zeichen nehmen. Auch an diesem Tag beginnt die Sitzung erst mit einer rund 20-minütigen Verspätung. Schon beim letzten Termin verspätete sich das Gericht eine halbe Stunde. Zuvor waren angesetzte Verhandlungstermine zwei Mal verschoben worden - und einmal vertagt.
Auf dem Programm steht ein Verfahren (K 3/21), das es in sich hat - und zwar für die polnische Justiz, das Verfassungsrecht Polens und die Rechtsgemeinschaft der EU. Ein Showdown im" Verfassungsduell" mit dem EuGH blieb aber auch am Mittwoch aus, stattdessen wird das polnische Verfahren weiter am Leben gehalten – und das wohl aus guten Gründen.
Verfassungsgericht vertagt, weil es Zeit für Fragen brauche
Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki hatte das Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny - TK) gebeten, zu prüfen, ob EU-Recht im Einklang mit der Verfassung steht. Zugespitzt läuft es darauf hinaus, dass das polnische Verfassungsgericht klären muss, ob es dem nationalen Verfassungsrecht Vorrang vor dem europäischen Recht einräumen will. Denn mit Blick auf die umstrittenen Justizreformen in Polen kommt es sozusagen zum Schwur: Die obersten EU-Richterinnen und Richter hatten festgestellt, dass EU-Recht die Mitgliedstaaten zwingen kann, einzelne Vorschriften im nationalen Recht außer Acht zu lassen – auch im nationalen Verfassungsrecht.
Das polnische Verfassungsgericht hat sich die Frage vorgenommen, ob die EuGH-Gefolgschaft auch dann noch in Einklang mit der eigenen Verfassung steht, wenn im Ergebnis das eigene Rechtsregime in so sensiblen Bereichen wie einer eigenen Justizreform zurücktritt. Damit dreht es das Vorrang-Nachrang-Verhältnis in der europäischen Rechtsgemeinschaft schon mit seiner Rechtsfrage im Normenkontrollverfahren um. Für die Regierungspartei PiS geht es natürlich auch um ein politisches Zeichen. Nationale polnische Souveränität oder gemeinschaftliche EU-Werte – was geht vor?
Und so ist der Prozess in Warschau nicht einfach nur ein Gerichtsverfahren, sondern offenbar auch ein politisches Instrument mit Blickrichtung Brüssel. Am Mittwoch haben die Beteiligten noch einmal Gelegenheit, ihre Stellungnahmen vorzubringen. Nach einer längeren Unterbrechung zur Mittagszeit ist dann endgültig Schluss für den Verhandlungstag. Am 30. September um 12 Uhr soll die Verhandlung fortgesetzt werden. Zur Begründung hieß es, es seien neue Aspekte vorgebracht worden; das Gericht brauche Zeit, um Fragen dazu zu formulieren.
Beobachter: "Erneutes Ausweichmanöver"
"Vieles spricht dafür, dass es sich erneut um ein Ausweichmanöver handelt", sagt der Berliner Rechtsanwalt Dr. Oscar Szerkus zu LTO, der die Verhandlung im Live-Stream verfolgt hat. "Erstens, die Stellungnahmen der Beteiligten wiederholten nur das bisher schriftlich Vorgebrachte – neue Argumente, die ein unentschlossenes, aber pflichtbewusstes Verfassungsgericht in die eine oder in die andere Entscheidungsrichtung lenken könnten, gab es nicht." Zweitens, wenn das TK tatsächlich spontan Vorbereitungsbedarf verspürt hätte, wäre ein Vertagungsbeschluss problemlos vor der anderthalbstündigen Pause möglich gewesen. Und drittens, so Szerkus, lohne sich ein Urteil noch nicht. "PiS-Chef Kaczyński dürfte vom Schwebezustand der Ungewissheit mehr profitieren als von einer klaren Positionierung, von der es kein Zurück gibt."
Die Regierungspartei werde die kontrollierte Eskalation bis zum Point of no Return fortsetzen und auf dem Weg dahin immer lauter mit einem Polexit kokettieren, schätzt Szerkus.
Es sei auch nicht auszuschließen, dass das TK bald den Vorrang der polnischen Verfassung gegenüber EU-Recht feststellen werde, in der Begründung aber alles wieder relativieren werde, um das Urteil nach politischem Bedarf flexibel einsetzen zu können. "Mit dem Austritt Polens aus der EU ist in den kommenden Jahren jedenfalls nicht zu rechnen."
Europarechtler: "Unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit gibt es in Polen nicht mehr."
Auch der Europarechtler Prof. Dr. Franz C. Mayer von der Uni Bielefeld hat die Verhandlung verfolgt: "Das Gericht tut sich ersichtlich schwer damit, das Verfahren voranzubringen und ordnet nach zunächst Verhandlungspausen in der Sitzung wiederholt unvermittelt und eher überraschend Sitzungsvertagungen an. Manche deuten das so, dass es offenbar noch keine klaren Instruktionen der politischen Macht gibt, in welche Richtung zu entscheiden ist", sagt Mayer zu LTO.
Klar sei jedenfalls, dass ein anhängiges nationales Gerichtsverfahren weiterhin flexible und abgestufte Reaktionsmöglichkeiten im Hinblick auf die nächsten Schritte aus Brüssel oder Luxemburg biete. Für Mayer steht fest: "Diese Indizien zu einem taktischen Umgang mit dem Verfassungsgerichtsverfahren bestätigen dann freilich genau das, was regierungsseitig bestritten wird: Eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit gibt es in Polen nicht mehr."
Richter brauchen mehr Zeit für Fragen: . In: Legal Tribune Online, 22.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46088 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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