Eltern von schulpflichtigen Kindern müssen grundsätzlich die Masernimpfung ihres Kindes nachweisen. Das OVG NRW weist die rechtlichen Bedenken der Eltern zurück – und weicht damit vom Bayerischen VGH ab.
Die Eltern einer Grundschülerin in Schieder-Schwalenberg (NRW) wehrten sich zunächst vor dem Verwaltungsgericht (VG) Minden und anschließend vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW im Eilverfahren gegen die Pflicht, die Masernimpfung ihrer Tochter nachzuweisen. In beiden Fällen blieben sie aber erfolglos. Das OVG NRW hat nun ebenso wie zuvor das VG Minden entschieden, dass die zwangsgeldbewehrte Verpflichtung, die Impfung oder die Immunität gegen Masern bei schulpflichtigen Kindern nachzuweisen, rechtmäßig ist (Beschl. v. 16.07.2024, Az. 13 B 1281/23).
Das Gesundheitsamt hatte die Eltern mit Bescheid vom 22. September 2023 aufgefordert, entweder den Nachweis über die Masernimpfung oder die Impfunfähigkeit ihrer Tochter gegen Masern vorzulegen. Anderenfalls hatte es ein Zwangsgeld in Höhe von 500 Euro angedroht. Das Gesundheitsamt stützte den Bescheid auf § 20 Abs. 12 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG), wonach es einen Nachweis über die Masernimpfung “anfordern” kann.
Die Eltern hatten geltend gemacht, diese Norm ermächtige von vornherein nicht zum Erlass von Verwaltungsakten, die mit Zwangsgeld vollstreckt werden könnten. Dieses Argument konnte das OVG NRW allerdings mit § 20 Abs. 12 Satz 7 IfSG widerlegen, wonach "Widerspruch und Anfechtungsklage" gegen die Anordnung möglich sind. Das ist nur bei Verwaltungsakten der Fall.
Faktische Impfpflicht wegen der Schulpflicht
Der juristische Hauptangriffspunkt der Eltern war indes die fragliche Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Dabei versuchten sie sich auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Masernimpfung in Kitas (BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022, Az. 1 BvR 469/20 u.a.) zu stützen. Hier begründete das BVerfG die Verfassungskonformität der Nachweispflicht auch damit, dass die Impfung letztlich freiwillig sei, weil es keine Kitapflicht gebe. Da die Pflicht zum Nachweis der Masernimmunität aber mit der Schulpflicht einhergehe, laufe dies nach Ansicht der Eltern auf eine verfassungswidrige faktische Impfpflicht für Schulkinder hinaus.
Diesen Umkehrschluss lehnt das OVG NRW jedoch ab. Denn die Entscheidungsfreiheit wegen fehlender Kita-Pflicht sei im Beschluss des BVerfG nicht das tragende, sondern nur ein ergänzendes Argument gewesen. Dafür, dass die mangelnde Entscheidungsfreiheit bei Schulkindern nicht ausschlaggebend sei, spricht nach Ansicht des OVG auch die Tatsache, dass die Entscheidungsoption bei nicht schulpflichtigen Kindern "ohnehin nur eine theoretische" sein dürfte. "Ein Betreuungsplatz in einer nicht erlaubnispflichtigen Tagespflege dürfte nur in wenigen Fällen verfügbar bzw. falls vorhanden für die Eltern finanzierbar sein", so der Senat. Insofern hält das OVG die Situation bei Kitas und Schulen für annähernd vergleichbar.
Wegen Infektionsrisiko und Gefährlichkeit gerechtfertigt
Der Schwerpunkt der Begründung des BVerfG, auf die das OVG in seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung verweist, lag nach Ansicht des Senats vielmehr im hohen Infektionsrisiko für Kinder in Gemeinschaftseinrichtungen sowie in der Gefährlichkeit der Masernerkrankung; der Infektionsschutz durch die Nachweispflicht rechtfertige den Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Kinder und in das Erziehungsrecht der Eltern.
Das OVG weist schließlich auch das (eidesstattlich versicherte) Vorbringen der Eltern zurück, dass in der Verwandtschaft aufgrund der Masernimpfung eine Krankheit aufgetreten sei. Es komme allein auf eine medizinische Kontraindikation beim Kind selbst an.
Konträre Entscheidung des VGH Bayern
Das OVG weist in seinem Beschluss allerdings auch auf die abweichende Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) hin. Dieser hatte im Januar 2024 entschieden, dass die Vorlage eines Impfnachweises nicht mit Zwangsgeld durchgesetzt werden dürfe (Beschl. v. 15.01.2024, Az. 20 CS 23.1910, 20 CE 23.1935).
Darüber hinaus war der VGH im Gegensatz zum OVG der Ansicht, dass die Entscheidungsfreiheit für das BVerfG sehr wohl eine tragende Rolle gespielt habe: Das BVerfG habe den mit dem Impferfordernis verbundenen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG "maßgeblich daran gemessen, ob jeweils auch ein Verzicht auf die Impfung – und sei es unter Inkaufnahme gravierender Nachteile – möglich bleibt", so der VGH.
VGH stellt auf (mutmaßlichen) Willen des Gesetzgebers ab
Der VGH konnte seinen Beschluss auch auf Erläuterungen des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren stützen: Dieser habe nämlich vorgeschlagen, generell keine Betretungsverbote für Bildungseinrichtungen vorzusehen, da es "auch bei nicht schulpflichtigen Personen in keinem angemessenen Verhältnis [stehe], wegen des angestrebten Masernschutzes den Bildungsanspruch einzelner zu beeinträchtigen".
Nach Auffassung des VGH belässt der Gesetzgeber mit § 20 Abs. 12 Satz 5 IfSG, wonach der Erlass eines Betretungsverbots (für Gemeinschaftseinrichtungen) bei schul- und unterbringungspflichtigen Personen ausnahmsweise gesetzlich ausgeschlossen ist, demnach einen "Freiheitsraum für den Verzicht auf eine Impfung". Dieser dürfe nicht durch die Zwangsvollstreckung der Nachweisvorlagepflicht – und damit mittelbar der Impfung selbst – unterlaufen werden.
Der VGH konnte in seinem Beschluss demnach auf den (mutmaßlichen) Willen des Gesetzgebers abstellen. Die Rechtslage ist indessen weiterhin umstritten.
Unterschiedliche Ansichten bei OVG NRW und VGH Bayern: . In: Legal Tribune Online, 26.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55082 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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