Nach der Brandkatastrophe im Flüchtlingslager Moria hat sich der DAV mit einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin gewandt. Die Bundesregierung solle grünes Licht für die Aufnahme von Flüchtlingen von Lesbos durch die Bundesländer geben.
Diverse Bundesländer hatten bereits angeboten, nach der vollständigen Zerstörung des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Geblockt werden diese Wünsche jedoch bislang von Bundesinnenminister Seehofer, der eine europäische Lösung favorisiert und ein autonomes Vorgehen Deutschlands ablehnt.
Auf eine solche Lösung warten, die zudem von vielen Beobachtern als politisch äußerst unrealistisch angesehen wird, will jedenfalls nunmehr auch nicht der Deutsche Anwaltverein (DAV). In einem offenen Brief, der sowohl an die Kanzlerin als auch an die Ministerien von Seehofer und Lambrecht adressiert ist, fordert DAV-Präsidentin Edith Kindermann die Kanzlerin auf, Seehofers Blockadehaltung zu überwinden: "Es verwundert sehr, dass das Bundesministerium des Innern die Bestrebungen der Bundesländer aktiv unterbindet, diese Personengruppen aufzunehmen. Diese Blockadehaltung muss unmittelbar aufgelöst werden", schreibt Kindermann.
Kindermann: "Bundesländer rechtlich nicht daran gehindert, Flüchtlinge aufzunehmen"
Der DAV-Präsidentin zufolge ist Deutschland "moralisch verpflichtet, den Bewohnern dieses Lagers zu helfen." Auch rechtlich ist die Aufnahme von Geflüchteten nach Auffassung der Anwaltsorganisation unproblematisch: "Schon nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts steht den Bundesländern ein substanzieller Spielraum für Maßnahmen zur Aufnahme von Geflüchteten aus humanitären Notlagen zu", so Kindermann. Dieser ergebe sich aus der im Grundgesetz verankerten Eigenstaatlichkeit der Bundesländer, die ihnen auch in außen- und europapolitischen sowie in humanitären Angelegenheiten weitreichende Befugnisse erteile. "Ausdruck dieses Spielraums ist § 23 Abs. 1 AufenthG, wonach oberste Landesbehörden berechtigt sind, 'aus völkerrechtlichen und humanitären Gründen an(zu)ordnen, dass (…) bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird'", schreibt die Anwältin
Im EU-Recht sieht der DAV jedenfalls keinen Hinderungsgrund, um die notleidenden Flüchtlinge aufzunehmen: "Im Gegenteil", so Kindermann. Vielmehr spreche der europarechtliche Grundsatz der Solidarität, der insbesondere für den Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung gelte (Art. 80 AEUV) und alle staatlichen Behörden verpflichte, gerade dafür, die Bundesländer Menschen aus den Lagern durch die Bundesländer aufnehmen zu lassen. "Wir können nicht verstehen, weshalb die Schutzbedürftigen erst und nur dann von einem Landeaufnahmeprogramm erfasst werden können, wenn sie aus der Türkei nach Deutschland einreisen", heißt es in dem Brief.
Anwälte vor Ort weiter aktiv*
Die DAV-Präsidentin appellierte weiter an die Bundeskanzlerin, dass Deutschland und die EU ihre Augen vor der humanitären und rechtlichen Katastrophe an den EU-Außengrenzen nicht länger verschließen sollten. "Die EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands bietet die Chance, auch an den EU-Außengrenzen rechtmäßige Verfahren der Betroffenen einzufordern."
Die europäische Anwaltschaft ist aktuell auf Initiative des DAV durch das Rechtsberatungsprojekt "European Lawyers in Lesvos" (ELIL) in Moria engagiert und hat dort nach eigenen Angaben seit 2016 bereits mehr als 11.000 Flüchtlinge rechtlich beraten. Nach Informationen von LTO können die Anwälte trotz polizeilicher Absperrungen, die den physischen Kontakt mit den Hilfesuchenden verhindern, ihre Arbeit fortsetzen. Man befinde sich mit ihnen im telefonischen Kontakt, erklärte der ELIL-Geschäftsführer Philip Worthington auf Anfrage.*
*Anmerkung der Redaktion: Die Passage wurde am 11.09.20, 9.59 Uhr geändert. In einer früheren Version wurde der Eindruck erweckt, als ob die Anwälte an ihrer Arbeit gehindert würden. Das ist nicht der Fall.
Moria: . In: Legal Tribune Online, 10.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42769 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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