Bundesregierung macht im Migrationsstreit Zugeständnisse: Mehr Grenz­kon­trollen und Zurück­wei­sungen

09.09.2024

In der Debatte um die Migrationspolitik hat die Ampel dem Druck der Union teilweise nachgegeben: Umfangreiche Grenzkontrollen und ein Modell für Zurückweisungen sollen irreguläre Migration eingrenzen. Beides ist rechtlich umstritten.

Um die Zahl der Einreisen von Menschen ohne Visum stärker einzudämmen, hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vorübergehende Kontrollen an allen deutschen Landgrenzen angeordnet und bei der EU-Kommission notifiziert. Das wurde am Montag aus Regierungskreisen bekannt. Die zusätzlichen Kontrollen sollen am 16. September beginnen und zunächst einmal sechs Monate andauern. Die Gründe dafür seien neben der Begrenzung der irregulären Migration auch der Schutz der inneren Sicherheit vor den aktuellen Bedrohungen durch den islamistischen Terrorismus und vor grenzüberschreitender Kriminalität.

Nach dem Migrationstreffen mit Unionsfraktion und Ländervertretern in der vergangenen Woche habe die Regierung nun zudem ein "Modell für europarechtskonforme und effektive Zurückweisungen entwickelt", hieß es aus Regierungskreisen weiter. Dieses Modell gehe über die derzeit erfolgenden Zurückweisungen hinaus. Weitere Details zu dem Vorschlag wurden zunächst nicht bekannt.

Faeser habe dies der Unionsfraktion mitgeteilt und vertrauliche Gespräche dazu angeboten. Ein solches Gespräch mit der CDU/CSU-Fraktion und dem Vorsitz der Ministerpräsidentenkonferenz könnte an diesem Dienstag stattfinden, hieß es. Wie der neue Vorschlag der Bundesregierung zu den Zurückweisungen genau aussieht, blieb zunächst offen.

Sind Grenzkontrollen und Zurückweisungen rechtskonform?

In der Vergangenheit hatte es aus dem politischen Raum unterschiedliche Ideen gegeben, etwa dass diese auf alle Ausländer ohne Ausweispapiere ausgedehnt werden sollten oder auf Asylbewerber, die bereits in einem Land als Schutzsuchende registriert wurden. Zurückweisungen an deutschen Landgrenzen gibt es derzeit nur in bestimmten Fällen: wenn jemand mit einer Einreisesperre belegt ist oder kein Asyl beantragt. Seit Oktober sind laut Bundesinnenministerium mehr als 30.000 Menschen zurückgewiesen worden.

Sowohl Zurückweisungen als auch Grenzkontrollen sind rechtlich umstritten. Rechtsprofessor Daniel Thym u.a. vertreten die Auffassung, dass nach der Dublin-III-Verordnung Zurückweisungen von Flüchtlingen an der Grenze nicht zulässig sind. Zwar könnte sich Deutschland auf eine Ausnahmeregel in Art. 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU berufen. Die dürfte der EuGH in diesem Fall aber wohl kaum akzeptieren. Auch bislang hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) alle entsprechenden Alleingänge von EU-Mitgliedstaaten im Nachgang für rechtswidrig erklärt. 

Die Grenzkontrollen, die zur effektiven Umsetzung von Zurückweisungen an der Grenze nötig wären, sind ebenfalls umstritten, weil sie gegen die Schengen-Regeln verstoßen könnten. Sie sind grundsätzlich nur zeitlich begrenzt zulässig. Dies betonte auch der EuGH in einem Fall aus Österreich, das im September 2015 wegen der "Migrationskrise" Kontrollen an den Grenzen zu Ungarn und Slowenien eingeführt und dann immer wieder verlängert hatte. Ab dem 11. November 2017 führte es für mehrere aufeinanderfolgende Zeiträume von sechs Monaten die Kontrollen wieder ein. Dies verstieß gegen EU-Recht, urteilte der EuGH am 26. April 2022 (Rs. C-368/20); LTO berichtete.

Bundesinnenministerin Faeser hatte Mitte Oktober 2023 stationäre Kontrollen an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz angeordnet. An der deutsch-österreichischen Landgrenze gibt es solche Kontrollen, die mit der irregulären Migration begründet werden, bereits seit September 2015. Mit einer hiergegen eingereichten Klage war das Verwaltungsgericht München jüngst befasst. Es wies die Klage zwar ab, wies zugleich aber obiter dictum darauf hin, dass die deutschen Kontrollen an der österreichischen Grenze gegen Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex verstoßen haben dürfte. Auch darüber berichtete LTO.

Bundesregierung setzt auf Risiko

Trotz der damit verbundenen rechtlichen Risiken wird es die Bundesregierung wohl darauf ankommen lassen, ob von den Kontrollen und Zurückweisungen Betroffene in zulässiger Weise dagegen klagen. Bis der EuGH über die nun beschlossenen Maßnahmen entscheidet, könnten noch Jahre vergehen.  

Ob sich die Union mit dem Vorschlag der Regierung zufrieden gibt, bleibt abzuwarten. Nordrhein-Westfalens CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst begrüßte die Anordnung zusätzlicher Grenzkontrollen am Montag. Solange die EU-Außengrenzen nicht geschützt würden, müsse es möglich sein, die Binnengrenzen zu schützen, sagte Wüst am Montag am Rande eines Besuchs des “Innovation Lab” der NRW-Polizei in Duisburg. "Wir haben die Pflicht, genau hinzuschauen, wer kommt." NRW-Innenminister Herbert Reul bezeichnete die Entscheidung für vorübergehende Grenzkontrollen als "zwingend notwendig", auch wenn es einem als Europäer schwerfalle.

Bundestag debattiert am Donnerstag über "Sicherheitspaket" 

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hatte vor Bekanntwerden von Faesers Entscheidung eine gemeinsame Lösung zwischen der Bundesregierung und der Union zum Kurs in der Migrationspolitik angemahnt. Die Demokratie müsse bei diesem von Menschen als "besonders drängend empfundenen" Problem liefern – sonst würden Menschen Alternativen suchen. Es sei von einem "überragenden Interesse", dass bei der Steuerung der Migration eine parteiübergreifende Lösung gefunden werde.

Neben der Diskussion um Kontrollen und Zurückweisungen hat die Ampel weitere Maßnahmen für eine schärfere Migrationspolitik beschlossen. Das kürzlich vorgestellte "Sicherheitspaket" umfasst Maßnahmen in drei Bereichen: eine strengere Rückführung abgelehnter Asylbewerber in ihre Herkunftsländer, entschiedenere Schritte gegen den islamistischen Terrorismus sowie Verschärfungen im Waffenrecht.

In der Nacht zu Samstag haben Bundesinnen- und Bundesjustizministerium eine Formulierungshilfe für die Umsetzung des Pakets an die Ampelfraktionen verschickt, um das Verfahren zu beschleunigen. Tatsächlich soll der Bundestag am Donnerstag über den Gesetzentwurf debattieren. Darauf habe man sich mit den Fraktionen verständigt, teilte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich vor der Fraktionssitzung seiner Partei mit.

dpa/lmb/mk/LTO-Redaktion

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Bundesregierung macht im Migrationsstreit Zugeständnisse: . In: Legal Tribune Online, 09.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55363 (abgerufen am: 09.09.2024 )

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