Nach 40 Verhandlungstagen wurde die frühere Schreibkraft im KZ-Stutthof Irmgard F. wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.500 Fällen schuldig gesprochen und zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt.
Nach 40 Verhandlungstagen im Prozess gegen eine frühere Sekretärin im KZ Stutthof hat das Landgerichts (LG) Itzehoe das Urteil verkündet. Die Strafkammer verurteilte die 97 Jahre alte Irmgard F. am Dienstag zu einer Strafe von zwei Jahren zur Bewährung wegen Beihilfe zum heimtückischen und grausamen Mord in mehr als 10.000 Fällen. Mindestens 1.000 Menschen seien mit dem Giftgas Zyklon B getötet worden. 9500 weitere seien infolge der bewusst herbeigeführten lebensfeindlichen Bedingungen gestorben.
Die Frau soll von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilangestellte in der Kommandantur von Stutthof bei Danzig gearbeitet und damit den Verantwortlichen des Konzentrationslagers bei der systematischen Tötung von Inhaftierten Hilfe geleistet haben. Weil sie zur Tatzeit erst 18 bis 19 Jahre alt war, wurde vor einer Jugendkammer verhandelt. In Stutthof und seinen 39 Außenlagern waren nach Angaben des Dokumentationszentrums Arolsen Archives zwischen 1939 und 1945 etwa 110 000 Menschen aus 28 Ländern inhaftiert. Fast 65 000 überlebten nicht.
Als ausgebildete Stenotypistin arbeitete Irmgard F. im Vorzimmer des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe. Sämtliche Befehle seien dort erstellt worden, sagte der Vorsitzende Richter Dominik Groß. "Der Angeklagten ist in ihrer Zeit in Stutthof nicht verborgen geblieben, was dort geschah." Sie sei an der entscheidenden Schnittstelle des Lagers tätig gewesen. Sie habe ein besonderes Vertrauensverhältnis zu Hoppe gehabt und ihn bei der Flucht 1945 sogar bis zum Lager Wöbbelin in Mecklenburg begleitet.
Von ihrem Dienstzimmer aus habe sie den Sammelplatz sehen können, wo ankommende elende Gefangene oft tagelang warten mussten. Das Krematorium sei im Herbst 1944 ununterbrochen in Betrieb gewesen. Rauch und Gestank hätten sich über das Lager verbreitet. Es sei "schlicht außerhalb jeder Vorstellungskraft", dass die Sekretärin von den Massentötungen nichts bemerkt habe. Irmgard F. habe ihrer Dienstverpflichtung zugestimmt. Aber, so der Richter: "Die Angeklagte hätte jederzeit ihre Anstellung kündigen können."
Irmgard F. wollte sich Verfahren nicht stellen
Seit Beginn des Prozesses am 30. September 2021 hörte das Gericht immer wieder Nebenkläger an, meist über eine Videoverbindung in die USA, Israel oder Polen. Sie berichteten vom Leiden und massenhaften Sterben in Stutthof. Wichtigster Zeuge war jedoch der historische Sachverständige Stefan Hördler, der sein Gutachten in 14 Sitzungen vorstellte. Die Verteidigung stellte einen Befangenheitsantrag gegen ihn, den das Gericht aber ablehnte.
Die Frau wollte sich anfangs dem Verfahren nicht stellen. Am ersten Verhandlungstag verschwand sie frühmorgens aus ihrem Seniorenheim in Quickborn (Kreis Pinneberg). Die Polizei griff sie Stunden später auf einer Straße in Hamburg auf. Das Gericht erließ daraufhin einen Haftbefehl. Die damals 96-Jährige verbrachte fünf Tage in Untersuchungshaft und musste danach wochenlang ein elektronisches Armband tragen.
Am letzten Verhandlungstag Schweigen gebrochen
Vor Gericht wirkte Irmgard F. rüstig und deutlich jünger. Fast bis ganz zum Schluss äußerte sie sich nicht zu den Vorwürfen, obwohl die Nebenklagevertreter sie dazu immer wieder aufforderten. Erst am 40. Verhandlungstag brach sie ihr Schweigen: "Es tut mir leid, was alles geschehen ist", sagte sie in ihrem letzten Wort. Die 97-Jährige fügte hinzu: "Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen."
"Das Urteil ist von uns so erwartet worden", äußerte Verteidiger Wolf Molkentin. Er bekräftigte, dass er und sein Kollege Niklas Weber "unüberwindliche Zweifel" bei der Schuldfrage sähen. "Wir wundern uns ein bisschen darüber, dass die von uns aufgeworfenen Fragen in der mündlichen Urteilsbegründung gar keine Rolle gespielt haben", sagte Molkentin. Eine Aussage zu einer möglichen Revision machte er nicht.
"Mehr kann staatliches Strafrecht inhaltlich nicht leisten"
Rechtsanwalt Hans-Jürgen Förster, der vier Stutthof-Überlebende als Nebenkläger vertrat, betonte, dass der Schuldspruch das Entscheidende sei. "Mehr kann staatliches Strafrecht inhaltlich nicht leisten." Sein Kollege Christoph Rückel, Anwalt von sechs Überlebenden, erklärte: "Ich war nie einverstanden, dass es zu einer Bewährungsstrafe kommt, weil das das falsche Signal ist."
Es ist möglicherweise der letzte Prozess in Deutschland wegen NS-Verbrechen. Ende Juni 2022 hatte das Landgericht Neuruppin einen ehemaligen Wachmann des KZ Sachsenhausen wegen Beihilfe zum Mord an tausenden Häftlingen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Fünf weitere Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche NS-Täter sind nach Angaben der Zentralstelle in Ludwigsburg (Baden-Württemberg) bei den Staatsanwaltschaften anhängig, davon jeweils eins bei den Behörden in Erfurt, Coburg und Hamburg sowie zwei in Neuruppin.
Die Justiz muss in diesen Fällen ermitteln, weil es um Beihilfe zum Mord geht. 1979 hatte der Bundestag die Verjährung von Mord und Beihilfe zum Mord endgültig aufgehoben. Das bedeutet, dass sich Tatverdächtige bei Verhandlungsfähigkeit bis ins hohe Alter einem Verfahren stellen müssen.
dpa/ku/LTO-Redaktion
LG Itzehoe zur Beihilfe am Massenmord: . In: Legal Tribune Online, 20.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50524 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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