Reaktionen auf Haftbefehl-Anträge des IStGH-Chefanklägers: "Skan­da­löse Inter­ven­tion" oder faire Anwen­dung des Völ­ker­rechts?

21.05.2024

Die Reaktionen auf die am Montag bekannt gewordenen Haftbefehl-Anträge gegen drei Hamas-Führer sowie Israels Ministerpräsidenten Netanjahu und Verteidigungsminister Gallant reichen von Jubel bis Empörung.

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Karim Khan, hat am Montag Haftbefehle gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und dessen Verteidigungsminister Yoav Gallant einerseits sowie andererseits gegen Führungspersonen der Terrororganisation Hamas - Yahya Sinwar, Mohammed Deif und Ismail Haniyeh - beantragt, LTO berichtete.

Das Vorgehen des Chefanklägers, der seit Monaten wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zuge des Gaza-Krieges ermittelt, rief auf beiden Seiten sowie in der internationalen Politik teils große Kritik hervor. Ausgangspunkt der Ermittlungen ist der 7. Oktober 2023, an dem die Hamas und weitere islamistsiche Terroristen etwa 1.200 Menschen grausam ermordeten und 252 Personen als Geiseln verschleppten, von denen - Stand Ende Mai 2024 - noch immer mehr als die Hälfte in der Gewalt der Terrororganisation sind. Israel reagierte hierauf mit konzertierten militärsichen Aktionen, um einerseits Geiseln zu befreien und andererseits die Hamas, welche seit 2007 im Gazastreifen regiert und von einem großen Teil der Bevölkerung unterstützt wird, zu zerschlagen.

Den Hamas-Führern wirft der Ankläger unter anderem "Ausrottung" sowie Mord, Geiselnahme, Vergewaltigungen und Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Er forderte die Terrororganisation auf, alle israelischen Geiseln umgehend freizulassen und für die "sichere Rückkehr zu ihren Familien" zu sorgen. Wiederum meint die Hamas, deren erklärtes Ziel die Vernichtung des Staates Israels ist, Opfer und Henker würden gleichgesetzt und Israel werde ermutigt, den Krieg im Gazastreifen fortzusetzen.

Externe Expertengruppe sichtet Beweise

Zu möglichen Haftbefehlsanträgen im Fall Israel-Gaza hatte es schon länger Spekulationen gegeben. Chefankläger Khan hatte die Region knapp zwei Monate nach dem 7. Oktober erstmals besucht und damals geäußert: "Wir müssen zeigen, dass das Recht an allen Frontlinien herrscht und das es in der Lage ist, alle zu schützen". Offenbar war auch für diese Woche ein weiterer Besuch von Khan in Israel geplant, jedoch kam Khan dem jetzt plötzlich zuvor und sorgt so für diplomatische Verstimmungen, berichten The Times Of Israel und ynet. Bei seinem Besuch Anfang Dezember hatte Khan noch betont, Israel habe ein "robustes System" zur Einhaltung des Rechts, was vor dem Hintergrund des Komplementaritätsprinzips (Art. 17 Römisches Statut) große Bedeutung hat.

Zur Aufklärung mutmaßlicher Kriegsverbrechen hatte Khan auch eine externe Expertengruppe zur Unterstützung beauftragt. Dieser Expertengruppe gehören neben der prominenten Menschenrechtsanwältin Amal Clooney verschiedene dekorierte angelsächsische Juristen an. In der Financial Times erklärten sie ihre Einstimmigkeit dahingehend, "dass es hinreichende Gründe gibt für die Annahme, dass die von ihm bestimmten Verdächtigen im Zuständigkeitsbereich des IStGH Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangenen haben." Die Gruppe habe über Monate unter anderem Zeugenaussagen, Sachverständigengutachten, Videos und Fotos gesichtet.

Vermeintliche Gleichsetzung sorgt für Empörung

Zwar beantragte Khan mehr Haftbefehle gegen Hamas-Führer als gegen israelische Politiker. Jedoch rief insbesondere die Art und Weise der Kommunikation erhebliche Kritik hervor. Das Auswärtige Amt (AA) äußerte am Montag, es sei der "unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung" zwischen Hamas und israelischer Staatsführung entstanden. Gleichzeitig betonte das AA jedoch die Unterstützung des IStGH in seiner Arbeit seitens der Bundesregierung.

Auch die USA übten insoweit Kritk: "Wir weisen die Gleichsetzung Israels mit der Hamas durch die Anklage zurück", so US-Außenminister Blinken. "Die Hamas ist eine brutale Terrororganisation, die das schlimmste Massaker an Juden seit dem Holocaust verübt hat und noch immer Dutzende von unschuldigen Menschen als Geiseln hält".

Der britische Premierminister Sunak erklärte, das Vorgehen des Chefanklägers sei nicht hilfreich in dem Bestreben, eine Feuerpause im Gazastreifen zu erreichen, die Geiseln dort heraus oder Hilfsgüter hinein zu bekommen. Österreichs Bundeskanzler Nehammer bezeichnete das Vorgehen des Chefanklägers als "nicht nachvollziehbar".

Der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa hingegen begrüßte das Vorgehen des Chefanklägers am Strafgerichtshof. Südafrika hatte seinerseits den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag wiederholt zu Maßnahmen gegen Israel aufgefordert und den Vorwurf eines Völkermordes erhoben.

Forum Menschenrechte: "Völkerrecht gilt für alle"

Auch aus Frankreich kamen eher verhaltene Töne, wobei die alternativlose Suche nach einer politischen Lösung des Konflikts betont wurde. "In Bezug auf Israel wird es Aufgabe der Vorverfahrenskammer des Gerichtshofs sein, über die Ausstellung dieser Haftbefehle zu entscheiden, nachdem sie die vom Ankläger zur Untermauerung seiner Anschuldigungen vorgebrachten Beweise geprüft hat, wobei sie den Grundsatz der Komplementarität und das mögliche Vorgehen israelischer Gerichte berücksichtigt", teilte das Pariser Außenministerium mit und verzichtete insoweit auf Kritik.

Das Forum Menschenrechte (FMR) begrüßte die Anträge in einer Erklärung am Dienstag: "Die nun beantragten Haftbefehle unterstreichen, dass das Völkerrecht für alle gilt. Die Relativierung von Menschenrechts- oder Völkerrechtsverletzungen schwächt das internationale Recht und die politische Glaubwürdigkeit." Die Bundesregierung müsse sich für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen, unabhängig davon, welche Konfliktpartei für deren Verletzung verantwortlich sei, so das FMR.

Für die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) erklärte dagegen Präsident Volker Beck, dass vor dem Hintergrund des 7. Oktobers nicht vergessen werden dürfe, "wer diesen Krieg begonnen und wer unschuldige Bürger und Familien vergewaltigt, abgeschlachtet, verbrannt, misshandelt und entführt hat". Beck weiter: "Die faktische Gleichstellung einer Terrororganisation mit einem demokratischen Staat und seiner Armee, die sich gegen einen Angriff verteidigt, lässt an der rechtlichen Orientierung der Ankläger zweifeln." Bei dem Vorgehen von Khan handele es sich "um einen politischen Akt zur Isolierung Israels und keinen juristisch begründbaren Schritt", so Beck. Zudem könnte mit Blick auf Art. 17 des Römischens Statut der Nachweis nicht erbracht werden, "dass die israelische Justiz nicht willens oder nicht in der Lage ist, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen".

Netanyahu vergleicht Khan mit NS-Scharfrichtern

Ministerpräsident Netanyahu und Verteidigungsminister Gallant werden von Khan unter anderem beschuldigt, für das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung sowie für willkürliche Tötungen und zielgerichtete Angriffe auf Zivilisten verantwortlich zu sein. Khan betonte zwar das Recht Israels, seine Bevölkerung gegen alle Angriffe zu verteidigen. Er erklärte jedoch zugleich, dieses Recht entbinde Israel nicht von der Pflicht, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten.

Der israelische Präsident Isaac Herzog bezeichnete die Anträge als "mehr als empörend". Auch der Oppositionsführer Yair Lapid sprach am Montag von einem "völligen moralischen Versagen". Netanyahu selbst äußerte am Montag auf X: "Das ist eine vollständige Verzerrung der Realität". Der "absurde" und falsche Antrag richte sich nicht nur gegen ihn und Gallant, "er richtet sich gegen den gesamten Staat Israel". Der Antrag sei ein Beispiel eines "neuen Antisemitismus", der von Universitätsgeländen nach Den Haag gezogen sei, sagte Netanyahu mit Anspielung auf die propalästinensischen Proteste an Hochschulen. "Vor achtzig Jahren war das jüdische Volk vollkommen wehrlos gegen unsere Feinde", so Netanyahu weiter. "Diese Zeiten sind vorbei: Jetzt hat das jüdische Volk einen Staat und wir haben eine Armee, um unseren Staat zu verteidigen".

In einer am späten Montagabend veröffentlichten Videobotschaft auf Englisch sagte Netanyahu, Khan gieße "hartherzig Öl in die Feuer des Antisemitismus, die auf der ganzen Welt wüten". Netanyahu verglich Khan sogar mit den NS-Scharfrichtern. "Er steht nun Seite an Seite mit jenen berüchtigten deutschen Richtern, die ihre Roben anzogen und für Gesetze eintraten, die dem jüdischen Volk die elementarsten Rechte verweigerten und es den Nazis ermöglichten, das schlimmste Verbrechen der Geschichte zu begehen."

Auch die Abgeordneten der Knesset reagierten mit seltener Geschlossenheit. Der Staat Israel befinde sich in einem gerechten Krieg gegen eine kriminelle Terrororganisation, hieß es in der am Montagabend von 106 der 120 Abgeordneten verabschiedeten Stellungnahme. Der Vergleich der israelischen Regierungspolitiker mit Hamas-Terroristen sei skandalös und ein klarer Ausdruck von Antisemitismus, so die Knesset-Abgeordneten. "Wir lehnen dies mit Abscheu ab. 80 Jahre nach dem Holocaust wird niemand den jüdischen Staat daran hindern, sich zu verteidigen".

Haftbefehle würden Bewegungsfreiheit einschränken

Es wird davon ausgegangen, dass die Hamas-Führer Sinwar und Deif sich seit Beginn des Gaza-Kriegs vor mehr als sieben Monaten im unterirdischen Tunnelsystem der Hamas im Gazastreifen versteckt halten. Haniyeh führt dagegen Berichten zufolge mit einem Teil seiner Familie seit Jahren ein Luxusleben in Katar. 

Folgt der IStGH den Anträgen des Anklägers, hätte das Gericht zwar keinerlei Möglichkeiten, die Haftbefehle selbst zu vollstrecken. Jedoch wäre die Bewegungsfreiheit der Gesuchten erheblich eingeschränkt, da alle Mitgliedstaaten des Gerichts im Prinzip verpflichtet wären, die Beschuldigten auf ihrem Staatsgebiet festzunehmen und nach Den Haag zu überstellen. 139 Staaten weltweit haben das Römische Statut unterzeichnet, 124 davon haben es ratifiziert, auch Deutschland. Israel gehört neben den USA, Russland und China zu den Staaten, die das Gericht nicht anerkennen. Aber die palästinensischen Gebiete sind seit 2015 Vertragsstaat.

Über die Anträge Khans wird nun eine Vorverfahrenskammer in den nächsten Wochen entscheiden. Die hier zuständige Pre-Trial Chamber I muss insoweit am Maßstab von Art. 58 Römisches Statut entscheiden, ob die Haftbefehle erlassen werden.

jb/LTO-Redaktion mit Materialien der dpa

Zitiervorschlag

Reaktionen auf Haftbefehl-Anträge des IStGH-Chefanklägers: . In: Legal Tribune Online, 21.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54580 (abgerufen am: 02.11.2024 )

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