Seit fast 60 Jahren hält Israel palästinensische Gebiete besetzt und baut immer neue Siedlungen. Das sei eine völkerrechtswidrige Annexion, so der IGH. Israel solle sich "so schnell wie möglich" zurückziehen – und Betroffene entschädigen.
Israel lehnt einen palästinensischen Staat ab. Das hat es erst am Donnerstag in einer Resolution noch einmal bekräftigt. Die Gründung eines palästinensischen Staates "im Herzen des Landes Israel" stelle "eine existenzielle Bedrohung für den Staat Israel und seine Bürger" dar und würde "den israelisch-palästinensischen Konflikt fortsetzen und die Region destabilisieren", heißt es in der Resolution.
Seit dem Sechstagekrieg 1967 besetzt Israel das Westjordanland, Ostjerusalem und den Gazastreifen (die besetzten palästinensischen Gebiete). Die Siedlungen im Gazastreifen hat Israel im Jahr 2005 geräumt und seine militärischen Kräfte abgezogen, kontrolliert aber weiterhin die Grenzen. Insbesondere im Westjordanland, aber auch in Ostjerusalem werden immer mehr Siedlungen ausschließlich für die jüdische Bevölkerung gebaut. Erst im März 2024 hat Israel im Westjordanland 800 Hektar Land beschlagnahmt und für den Siedlungsbau ausgewiesen. Dabei handelt es sich um die größte Beschlagnahmung von Land in den Palästinensergebieten seit 1993, berichtet eine NGO. Faktisch gibt es dort zwei Rechtssysteme: eines für die israelischen Siedler und eines für die palästinensischen Bewohner. Für die Palästinenser gilt nur das Militärrecht.
Mit dieser Praxis betreibe Israel faktisch eine Annexion palästinensischer Gebiete, so der Internationale Gerichtshof (IGH) in einem am Freitag veröffentlichten Rechtsgutachten. Eine Besatzung sei grundsätzlich nur ein vorübergehender Zustand, Israel aber wolle dauerhaft die Hoheitsgewalt in den besetzten Gebieten ausüben. Israel verstoße nicht nur gegen das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser, sondern auch gegen das Gewaltverbot und Art. 3 der Rassendiskriminierungskonvention. Dieser verbietet rassische Segregation und Apartheid.
Israel muss sich "so schnell wie möglich" aus besetzten Gebieten zurückziehen
Damit stellt der IGH fest, dass Israel ein völkerrechtliches Delikt begeht und deshalb alles tun muss, um den völkerrechtswidrigen Zustand zu beenden, erklärt der Göttinger Professor für Straf- und Völkerrecht Kai Ambos. In dieser Hinsicht ordnet der IGH an, dass Israel sich "so schnell wie möglich" aus den besetzten palästinensischen Gebieten zurückziehen muss. Alle Staaten seien verpflichtet, diesen Zustand, der durch die "unrechtmäßige Präsenz des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten" entstanden ist, nicht anzuerkennen.
Der Sicherheitsrat und die Generalversammlung sollen prüfen, wie man die Anwesenheit Israels in den besetzen Gebieten so schnell wie möglich beenden kann. Außerdem müsse Israel sofort alle neuen Siedlungsaktivitäten einstellen und alle Siedler aus den besetzten palästinensischen Gebieten "evakuieren". Der IGH betont auch die Verpflichtung, betroffenen Personen sämtliche Schäden zu ersetzen, die durch die rechtswidrige Besatzung entstanden sind.
Es ist das zweite Rechtsgutachten des Gerichtshofes zur Besatzungspolitik Israels. Vor 20 Jahren, im Juli 2004, hatten die Richter bereits erklärt, dass die von Israel im Westjordanland errichtete Mauer gegen internationales Recht verstoße und daher abgerissen werden müsse. Israel hielt sich aber nicht daran. "Die Rechtswidrigkeit der Siedlungspolitik hat der IGH schon in seinem früheren Gutachten festgestellt, jetzt betont der IGH aber auch die Verantwortung Israels, die Gewalt der Siedler zu unterbinden und zu bestrafen", erklärt Ambos.
Völkerrechtler: "Israelische Besatzung insgesamt mittlerweile illegal"
Auch andere Völkerrechtler halten das Gutachten des IGH für bemerkenswert. "Der Gerichtshof stärkt in allen Punkten die Position Palästinas und stellt fest, dass Israel nicht nur gegen einzelne Vorschriften des Besatzungsrechts und der Menschenrechte einschließlich des Apartheitsverbots verstoßen hat, sondern dass die israelische Besatzung insgesamt mittlerweile illegal ist", so etwa Dr. Matthias Goldmann von der EBS Universität Wiesbaden.
Lisa Wiese von der Universität Leipzig hebt auch die Äußerung des IGH zum Apartheidsvorwurf hervor. "Der IGH sieht diese eine Verletzung von Art. 3 der UN-Rassendiskriminierungskonvention als bestätigt an, ohne hier jedoch näher auf das subjektive und zentrale Element der Absicht einzugehen", sagt Wiese. Auch der operative Teil der Entscheidung falle "mit seinen sieben konkreten Forderungen besonders stark aus", ergänzt sie.
Internationaler politischer Druck auf Israel steigt
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) hatte das Verfahren im Dezember 2022 mit einer Resolution angestoßen – also deutlich vor dem Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023. Eine Rekordzahl von 52 Staaten und drei internationalen Organisationen hatte sich an der Anhörung beteiligt, die vom 19. bis zum 26. Februar 2024 in Den Haag stattfand.
Das Gutachten ist zwar nicht rechtsverbindlich, aber es wird den internationalen politischen Druck auf Israel im aktuellen Gaza-Krieg weiter erhöhen.
Das am Freitag vorgestellte Gutachten ist unabhängig von dem anderen Verfahren vor dem IGH. Südafrika wirft Israel Völkermord an den Palästinensern vor und hatte Ende des Jahres 2023 ein Verfahren angestrengt. In verschiedenen Eilentscheidungen hatte der IGH Israel aufgefordert, seine Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention einzuhalten. Zuletzt hatte der IGH Israels Militäroffensive in Rafah beanstandet. Außerdem gaben die Richter Israel vor allem auf, mehr humanitäre Hilfe zuzulassen und mehr Grenzübergänge für längere Zeiträume zu öffnen, um die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern sicherzustellen. Das Hauptverfahren, in dem es um den Völkermordvorwurf geht, wird sich aber noch hinziehen.
Rechtsgutachten des IGH zu palästinensischen Gebieten: . In: Legal Tribune Online, 19.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55043 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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