Doppelte Strafverfolgung möglich: EGMR bestä­tigt Ver­ur­tei­lung im Kri­mi­nal­fall "Kalinka"

von Maximilian Amos

29.03.2018

Eine wilde Kriminalgeschichte endet in einem juristisch hochspannenden Gerichtsprozess, der nun vom EGMR entschieden wurde. Der Stiefvater des 1982 getöteten Mädchens Kalinka bleibt nach dem Straßburger Urteil in Haft.

Im Jahr 1982 wurde die 14-jährige Französin Kalinka leblos im Haus ihres deutschen Stiefvaters am Bodensee aufgefunden. Schon bald entspann sich eine Geschichte, die nicht nur das Zeug zu einem veritablen Krimi hat, sondern auch juristisch hochspannend ist. Nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sein zweites Urteil in dem Fall gesprochen: Die Verurteilung des Stiefvaters verstieß nicht gegen das Verbot der doppelten Strafverfolgung (Urt. v. 29.03.2018, Az. 67521/14).

Das Mädchen war damals im Haus des Stiefvaters unter nicht ganz klaren Umständen ums Leben gekommen, die deutsche Polizei leitete ein Ermittlungsverfahren gegen den Mann ein.

Der zum Tatort gerufene Notarzt hatte Einstiche am Oberkörper und Arm der jungen Französin festgestellt, sonst aber keine Anzeichen von Gewalt. Es hielt sich der Verdacht, der Stiefvater, der auch Mediziner ist, habe das Mädchen mit einer Injektion betäubt und vergewaltigt.

Weil die Todesursache nicht abschließend festgestellt werden konnte, stellte die deutsche Staatsanwaltschaft die Ermittlungen schließlich mangels Tatverdachts ein. Der leibliche Vater der Toten glaubte aber, dass der Stiefvater* für den Tod seiner Tochter verantwortlich sei und stellte in Paris Strafanzeige. Das französische Strafrecht sieht es vor, dass Taten, die irgendwo auf der Welt gegen einen französischen Staatsbürger begangen wurden, auch dort abgeurteilt werden können.

Entführung ermöglicht neuerliche Verurteilung

1995 verurteilte das Pariser Schwurgericht Kalinkas Stiefvater wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu 15 Jahren Haft - allerdings in Abwesenheit, da er sich zur Verhandlung nicht nach Frankreich begeben hatte und sich dort lediglich von seinem Anwalt vertreten ließ. Einwände der Verteidigung wurden dort nicht zugelassen, da der Angeklagte unerlaubt ferngeblieben war.

Aufgrund dessen lehnte schließlich der Bundesgerichtshof (BGH) eine Vollstreckung des Urteils in Deutschland ab, da wesentliche Verfahrensgrundsätze verletzt worden seien. Dies bestätigte dann auch der zeitgleich vom Verurteilten angerufene EGMR. Schließlich wurde das Urteil in Frankreich aufgehoben.

Nun schaltete sich erneut der Vater der Getöteten ein und nahm die Dinge selbst in die Hand: In einer Nacht-und-Nebel-Aktion verschleppte er den Mann, der verantwortlich für den Tod seiner Tochter sein sollte, hinter die französische Grenze und ließ ihn verletzt und gefesselt vor einem Justizgebäude zurück - der Weg für einen neuen Prozess war somit frei. Nun musste sich aber Kalinkas Vater gerichtlich wegen der Entführung verantworten und wurde in Frankreich zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Auch das nächste Urteil gegen den Stiefvater Kalinkas lautete auf 15 Jahre Haft, was auch in der Berufungsinstanz bestätigt wurde. Hiergegen wehrte sich der Deutsche schließlich mit seiner zweiten Beschwerde zum EGMR, diesmal rügte er eine Verletzung des Verbots doppelter Strafverfolgung. Nach aktueller Rechtsprechung des EuGH gelten auch nicht-gerichtliche Verfahrensbeendigungen als rechtskräftige Abschlüsse (Urt. v. 11.2.2003, Az. C-385/01).

EGMR verneint Entscheidungskompetenz über EU-Recht

Doch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) - genauer: ihr 7. Protokoll - sieht kein internationales Verbot doppelter Strafverfolgung vor, lediglich die Mehrfachverfolgung in ein und demselben Staat untersagt Art. 4 des Protokolls. Darauf wiesen nun auch die Richter der Großen Kammer hin und lehnten die Beschwerde ab.

Interessanter aber waren die weiteren Ausführungen zur Entscheidungskompetenz des Gerichtshofs: Denn das Recht der Europäischen Union sieht durchaus ein Verbot doppelter Strafverfolgung innerhalb aller Mitgliedstaaten vor (Art. 50 der Grundrechtecharta (GRC),  Art. 54 Schen­ge­ner Durch­füh­rungs­über­ein­kom­men (SDÜ)). Doch dafür sei man nicht zuständig, so die Richter. Es sei "nicht die Aufgabe des Gerichtshofs", zu beurteilen, ob das Strafurteil gegen Kalinkas Stiefvater gegen EU-Recht verstoße.

Die EMRK, so die Straßburger Richter, hindere Vertragsstaaten auch nicht daran, Regelungen zu treffen, die weiter seien, als von anderen völkerrechtlichen Verträgen vorgegeben. Somit blieb es bei der simplen Feststellung, dass die Entscheidungen in zwei verschiedenen Ländern gefallen seien und somit keine Verletzung der EMRK begründen könnten.

mam/LTO-Redaktion

*Korrektur am Tag der Veröffentlichung, 16:10 Uhr.

Zitiervorschlag

Maximilian Amos, Doppelte Strafverfolgung möglich: . In: Legal Tribune Online, 29.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27791 (abgerufen am: 18.11.2024 )

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