Debatte um Schmerzgriffe gegen Klimaaktivisten: Andro­hung "unfass­barer Sch­merzen" laut Polizei Berlin recht­mäßig

LTO berichtete über einen Polizisten, der einer Aktivisten "unfassbare Schmerzen" durch einen Griff androhte. Jetzt hat die Polizei das Vorgehen für rechtmäßig erklärt. Wir haben Verwaltungsrechtsprofessoren hierzu befragt: 

Ist das noch verhältnismäßig, oder schon rechtswidrige Polizeigewalt? In der Debatte um die möglicherweise rechtswidrige Androhung von Gewalt der Polizei gegen die Aktivisten der "letzten Generation" hält die Berliner Polizei das Vorgehen der Beamten für rechtmäßig. "In der genannten Videosequenz ist die Androhung einer möglichen und rechtlich zulässigen Transport- und Kontrolltechnik zu sehen", so eine Sprecherin der Berliner Polizei auf Anfrage von LTO.

Hintergrund der Anfrage ist ein in der vergangenen Woche auf Twitter veröffentlichtes Video. Darauf ist ein Gespräch zwischen einem Berliner Polizisten und einer Aktivistin der "Letzten Generation", die am 09. November die Danziger Straße in Prenzlauer Berg blockiert hatte, zu hören. In dem Video sagt die Aktivistin, sie sei bereit sich wegtragen zu lassen. Darauf äußert der Polizeibeamte: "Das wird so nicht funktionieren". Er droht der Aktivistin die Anwendung eines "Handbeugehebels" an, wenn diese nicht freiwillig aufstehen und die Straße verlassen werde. Der Griff würde bei ihr "unfassbare Schmerzen auslösen".

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In einem Beitrag auf LTO verwies Verwaltungsrechtler Dr. Patrick Heinemann darauf, dass die Behörden auch bei der Anwendung von Zwangsmitteln an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden sind. Es sei nicht plausibel, warum die Berliner Polizeikräfte nicht zuerst versuchten, die Demonstrantin ohne Gewaltanwendung wegzutragen. Das Vorgehen sei rechtswidrig. 

Das Video ist nicht das einzige, auf dem Berliner Polizisten den Aktivisten mit Gewaltanwendung drohen. In einem am 14. November auf dem Twitteraccount von der "Letzten Generation" veröffentlichten Video droht ein Polizist einem Demonstranten den Einsatz von Schmerzgriffen an, wenn dieser nicht freiwillig aufstehe. "Also ich trage Sie nicht, ich habe nämlich Rücken", sagt der Beamte. "Laut Arbeitsschutz darf ich Sie auch gar nicht tragen", so der Polizist weiter. Der Demonstrant wird in der Folge unter Anwendung von Schmerzgriffen von der Straße auf den Gehweg geschleift. 

Berliner Polizei: Rechtlich zulässige Transporttechnik

Auf die Frage von LTO, ob der von den Beamten angedrohte schmerzhafte Hand-Beuge-Hebel allgemein zum ersten Mittel der Wahl zu Entfernung von Klimablockierern gehöre, oder ob es andere Methoden, wie etwa unter die Armbeugen fassen, vorzugswürdig sind, gibt die Berliner Polizei eine Stellungnahme ab: Einen Anspruch darauf, weggetragen zu werden, gebe es nicht. "Es findet immer eine Einzelfallbetrachtung statt, bei der die Polizei Berlin grundsätzlich in einer abgestuften Verfahrensweise agiert. Dabei werden die blockierenden Personen zunächst angesprochen und aufgefordert, sich von der Straße bzw. Kreuzung zu entfernen. Anschließend werden Zwangsmaßnahmen angedroht, die nach Prüfung des jeweiligen Einzelfalls angemessen, erforderlich und geeignet sind, um das polizeiliche Ziel, die Beendigung der Verkehrsbehinderung, durchzusetzen." 

Dabei habe, so die Polizeisprecherin, "beispielsweise auch der Erhalt der Einsatzfähigkeit der vor Ort befindlichen Polizeimitarbeitenden und die Vermeidung von körperlichen Überlastungen mithin körperlichen Verletzungen (bspw. Erforderlichkeit des Wegtragens mehrerer Personen) Berücksichtigung zu finden." Der im Video als Zwangsmaßnahme angedrohte Handbeugetransporthebel sei eine polizeilich geschulte, kontrollierte Transporttechnik, die durch einzelne Dienstkräfte erfolge. Auf die Frage, ob sich der Beamte bei den Geschehnissen auf der Danziger Straße rechtmäßig verhalten habe, antwortet die Polizei, dass in dem Video die Androhung einer möglichen und rechtlich zulässigen Transport- und Kontrolltechnik zu sehen sei. 

Prof. Wieland: Verstoß gegen Verhältnismäßigkeitsprinzip

Anders sieht das Prof. Dr. Joachim Wieland, Inhaber des Lehrstuhls u.a. für Öffentliches Recht an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. "Das Vorgehen der Berliner Polizei verstößt gegen das Polizeirecht beherrschende Verhältnismäßigkeitsprinzip", so Wieland gegenüber LTO. Die Polizei sei nicht nur bei der Anwendung, sondern auch schon bei der Androhung von unmittelbarem Zwang an das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebunden. "Angedroht werden darf nur eine Zwangsmaßnahme, deren Anwendung auch verhältnismäßig wäre. Die Androhung soll den Betroffenen noch einmal deutlich machen, welcher unmittelbarer Zwang gegen sie eingesetzt werden wird, wenn sie sich den Anordnungen der Polizei widersetzen bzw. ihnen nicht folgen. Das würde sofort deutlich, wenn der Polizist im vorliegenden Fall etwa den Gebrauch seiner Schusswaffe angedroht hätte. Nichts anderes gilt aber für besonders schmerzhafte Zwangsmaßnahmen, wenn die Befolgung der polizeilichen Anordnungen durch den Betroffenen weniger belastende Zwangsmaßnahmen gesichert werden kann", sagt Wieland. 

Im Video zu den Geschehnissen auf der Danziger Straße sei laut Wieland kein Grund ersichtlich, warum das mildere Mittel des Wegtragens nicht in ebenso, aber für den oder die Weggetragenen weniger belastend zum Erfolg geführt hätte. Die Polizei dürfe nicht eine möglichst belastende Vollstreckung anordnen, wenn eine weniger belastende Vollstreckungsmaßnahme ebenfalls zum Ziel führt. "Das Zwangsvollstreckungsrecht ist kein 'Bedrohungsrecht', sondern 'Ermöglichungsrecht'. Es ermöglicht eine verhältnismäßige Übersetzung polizeilicher Maßnahmen, aber nicht mehr", so Wieland.

Prof. Möstl: Notwendigkeit des Griffs ist entscheidend für Rechtmäßigkeit

Auch Prof. Dr. Markus Möstl, Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Universität Bayreuth, nimmt gegenüber LTO Stellung. "Die vor der Anwendung unmittelbaren Zwangs notwendige Androhung muss sich auf ein verhältnismäßiges, also erforderliches und angemessenes Zwangsmittel beziehen. Alles hängt demnach davon ab, ob nach der polizeilichen Erfahrung der angedrohte Handbeugehebel wirklich notwendig ist, um Personen, die dem Platzverweis keine Folge leisten, in einer gefahrlosen und effektiven Weise wegzutragen", so der Polizeirechtsexperte gegenüber LTO. Möstl hält es für nicht unplausibel, dass Schmerzgriffe notwendig sein könnten. "Die Alternative 'Handbeugehebel oder Wegtragen' scheint mir jedenfalls nicht den entscheidenden Punkt zu treffen. Es geht eher um die richtige und angemessene Methode des Wegtragens", so Möstl.

Die einheitliche Wegtragmethode gibt es offenbar nicht. Warum müssen dann Schmerzen sein? picture alliance/dpa | Sebastian Gollnow /  Paul Zinken / Paul Zinken / Christoph Soeder

 

Die Rede von den "unfassbaren Schmerzen" sei sicherlich eine unglückliche Wortwahl, so der Staatsrechtler Prof. Möstl. "Schmerzandrohung ist kein legitimer Selbstzweck. Zulässig ist es aber nach Möstl, verhältnismäßige Zwangsmittel anzudrohen, selbst wenn diese Schmerzen verursachen, auf die im Kontext der Androhung auch hingewiesen werden darf."

Dr. Heinemann: Eilverfahren wäre möglich

LTO-Autor und Verwaltungsrechtler Dr. Patrick Heinemann bleibt bei seiner Einschätzung. "Es mag sein, dass es für die Beamten anstrengender ist, die Aktivisten wegzutragen, anstatt sie mit Schmerzgriffen wegzubewegen. Das allein führt aber nicht dazu, dass solche Techniken, die regelmäßig schmerzhaft sind, im Vergleich zum schlichten Wegtragen erforderlich sind." Heinemann verweist darauf, dass die Frage nach der Verhältnismäßigkeit von den Aktivisten vor dem Verwaltungsgericht Berlin geklärt werden könne. "Das könnte womöglich sogar im Rahmen eines Eilverfahrens geschehen", so Heinemann. 

Zitiervorschlag

Debatte um Schmerzgriffe gegen Klimaaktivisten: . In: Legal Tribune Online, 18.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50205 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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