Das BVerfG hat den zweiten Nachtragshaushalt 2021 im Bund für nichtig erklärt. Die Reaktionen auf die Entscheidung aus Karlsruhe fallen gemischt aus. Die Gretchenfrage: Wie geht es nun weiter? Experten machen erste Vorschläge.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die Verwendung von Corona-Krediten für Klimaprojekte als verfassungswidrig bewertet und die Ampel-Koalition so gezwungen, geplante Vorhaben vorübergehend auf Eis zu legen.
Die Karlsruher Richter haben am Mittwoch den zweiten Nachtragshaushalt des Bundes von 2021 für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Mit der Etatänderung wollte die Bundesregierung Kredite im Umfang von 60 Milliarden Euro in den Klimaschutz investieren, die ursprünglich für Corona-Maßnahmen gedacht, aber dafür nicht benötigt worden waren. Dies werteten die Richter als Verstoß gegen Ausnahmen bei der Schuldenbremse. Die Unionsfraktion im Bundestag hat damit erfolgreich gegen das Umschichten geklagt.
"Das Urteil schafft Klarheit"
Die Reaktionen auf die Grundsatzentscheidung des BVerfG fallen gemischt aus. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte in Berlin, das Urteil habe möglicherweise Auswirkungen auf die Haushaltspraxis nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern. Die umfangreiche Begründung und die Folgen würden nun gemeinsam mit dem Bundestag genau ausgewertet.
Die FDP-Fraktion im Bundestag hat das Haushaltsurteil des BVerfG begrüßt. "Das Karlsruher Urteil härtet die Schuldenbremse", sagte Fraktionschef Christian Dürr am Mittwoch in Berlin. Die FDP sei die Verteidigerin der Schuldenbremse und begrüße insofern die Klarstellung ausdrücklich. "Das Urteil, und das ist gut, schafft Klarheit über eine gängige Staatspraxis in Bund und Ländern."
Nach Ansicht von Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig zeigt die Entscheidung, dass für die Schuldenbremse neue Regeln erforderlich sind. "Sie muss Zukunftsinvestitionen für Sicherheit, Klimaschutz, Bildung und Digitalisierung ermöglichen und konsumtive Schulden begrenzen. So sichern wir Investitionen und solide Finanzen für zukünftige Generationen", schrieb die SPD-Politikerin auf der Plattform X.
"Eine Klatsche mit Wumms"
Naturgemäß härter fallen die Reaktionen aus der Opposition aus. Die Unionsfraktion im Bundestag fordert nach dem Haushaltsurteil des BVerfG einen Stopp des laufenden Etatverfahrens für das kommende Jahr. Die Beratungen, die an diesem Donnerstag fortgesetzt werden sollen, müssten unterbrochen werden, sagte der Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz (CDU) am Mittwoch in Berlin. "Diese Entscheidung entzieht der gesamten Finanz- und Haushaltsplanung der Bundesregierung die Grundlage", erklärte der Oppositionsführer im Bundestag.
CSU-Chef Markus Söder sprach in München von einem schlimmen Tag für die Regierungsfähigkeit in Deutschland und einem Desaster für die Koalition von SPD, Grünen und FDP. "Und eigentlich ist damit jede Legitimation vorbei, weiter regieren zu können. Im Grunde genommen kann eine Regierung so nicht weitermachen." CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt wertete das Urteil als "eine Klatsche mit Wumms für den Bundeskanzler und die Ampel-Koalition". Man könne jetzt nicht den Bundeshaushalt 2024 so aufstellen als hätte es dieses Urteil nicht gegeben.
Vorerst keine unmittelbaren Probleme
Wann und welche geplanten Vorhaben auf Eis gelegt werden, ist noch unklar. Die Regierung setzt jedoch klare Prioritäten. Finanzminister Christian Lindner (FDP) sagte am Mittwoch, ausgenommen von einer Streichung seien jene zur Förderung der Energieeffizienz und erneuerbarer Energien im Gebäudebereich. Fördermittel für den Heizungstausch sollen kommendes Jahr also fließen.
Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) betonte, alle zugesagten Verpflichtungen würden eingehalten. Als Beispiele für Vorhaben aus dem Klima- und Transformationsfonds (KTF), dem die 60 Milliarden Euro vor dem BVerfG-Urteil zugedacht waren, nannte er die Übernahme der Ökoenergie-Umlage und damit die Senkung der Stromkosten für Verbraucherinnen und Verbraucher, die Förderung von Gebäudesanierung, E-Mobilität sowie Fernwärme.
Die 60 Milliarden Euro waren im KTF bereits fest verplant - und sind jetzt nicht mehr da. Nach dem Urteil löschte Lindner die Kreditermächtigungen, also die Erlaubnis, die Kredite aufzunehmen. Ganz leer ist der Topf aber nicht. "Es sind noch genug Gelder im Klima- und Transformationsfonds, sodass das Verbot durch das Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar zu Problemen führen wird", schrieb der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher.
Ab 2025 ist Finanzierung kritisch
Ab 2025 könnte es dagegen kritisch aussehen. Die Bundesregierung will schnell einen neuen Wirtschaftsplan für den KTF erstellen. Dann dürfte sich klären, ob auf Programme verzichtet werden muss oder sie zumindest deutlich schwächer ausgestattet werden. Bis 2027 waren im KTF eigentlich Programmausgaben von mindestens 211,8 Milliarden Euro geplant. Welche Klimaschutz-Vorhaben des KTF dann betroffen sind, ist bislang unklar.
Diskutiert wird zudem bereits über andere Auswege, um die Streichung der Programme zu verhindern. Die Karlsruher Richter erklärten: "Soweit hierdurch bereits eingegangene Verpflichtungen nicht mehr bedient werden können, muss der Haushaltsgesetzgeber dies anderweitig kompensieren." Ökonomen haben auch bereits Ideen geäußert, wie der Bund an mehr Geld kommen könnte.
Ist eine Reform der Schuldenbremse die Lösung?
Mehrere Wirtschafs- und Sozialexperten sprachen sich für eine Reform der Schuldenbremse aus. Friedrich Heinemann vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) erklärte: "Eine Reform der Schuldenbremse mit neuen klar umrissenen Verschuldungsfenstern wäre der bessere Weg als das ständige Austesten der verfassungsrechtlichen Grauzone der Schuldenbremse."
"Man könnte zum Beispiel regeln, dass nach einer Krise nur schrittweise zur Schuldenregel zurückgekehrt werden muss", erklärte Prof. Dr. Achim Truger gegenüber der dpa. Er brachte zudem ins Spiel, die Ausnahmeregel der Schuldenbremse weiterhin in Anspruch zu nehmen und über mehrere Jahre eine Notlage auszurufen, weil die Haushalte weiterhin betroffen seien. Alternativ könnten fehlende Einnahmen durch die Erhebung eines befristeten Energie- oder Klima-Solidarbeitrags ausgeglichen werden.
Stefan Körzell aus dem Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) erklärte: "Der Paukenschlag aus Karlsruhe bedeutet vor allem eines: Die Bundesregierung muss die Schuldenbremse wieder aussetzen, denn die Folgen der Energiekrise sind längst nicht ausgestanden." Dies fordern auch der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Paritätische Gesamtverband.
Für die Ampel-Koalition könnten all diese Vorschläge neuer Sprengstoff sein. Denn zum einen stehen vor allem Programme auf dem Spiel, die den Grünen besonders wichtig sind. Außerdem gehen die Haltungen zur Schuldenbremse weit auseinander: Kanzler Olaf Scholz (SPD), Lindner und dessen FDP sind ausgeschriebene Fans, während die Grünen und auch die SPD als Partei immer wieder eine Reform der Regel fordern.
Was nun passiert
Welche weitreichenderen Folgen das Urteil hat, wird aktuell geprüft. Es könne sich grundlegend auf die Haushaltspolitik von Bund und Ländern auswirken, sagte Scholz. Dabei geht es um den Umgang mit schuldenfinanzierten Sondervermögen generell. "Das ist das Ende aller Schattenhaushalte, jedenfalls derer, die schuldenfinanziert sind", sagte Unionsfraktionschef Friedrich Merz. Der Bund unterhält aktuell 29 Sondervermögen mit Verschuldungsmöglichkeiten in Höhe mehrerer Hundert Milliarden Euro. Die Union sieht zumindest das 200 Milliarden Euro schwere Sondervermögen für die Energiepreisbremsen betroffen.
Kanzler Scholz kündigte bereits an, am Zeitplan für den Bundeshaushalt 2024 festzuhalten. Die für diesen Donnerstag geplante Sitzung des Haushaltsausschusses bleibe terminiert, der Haushalt werde dann planungsgemäß zur Abstimmung gestellt. In dieser Sitzung nimmt der Ausschuss letzte Änderungen am Etat für 2024 vor. Am Donnerstagnachmittag wird es auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion eine Aktuelle Stunde im Bundestag zu dem Urteil geben.
dpa/mw/LTO-Redaktion
Reaktionen nach BVerfG-Urteil zur Schuldenbremse: . In: Legal Tribune Online, 15.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53181 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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