ZMD: "Würdigt die Lebenswirklichkeit muslimischer Frauen"
Vertreter muslimischer Organisationen begrüßten die Aufhebung des pauschalen Kopftuchverbots. "Vor dem Hintergrund der wachsenden Islamfeindlichkeit und des an Bedeutung zunehmenden gewaltbereiten Islamismus ist die heutige Rechtsprechung um so bedeutender, da hiermit alle Religionen in unserem demokratischen Rechtsstaat gleich behandelt werden sollen", sagte die Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes, Lamya Kaddor.
"Auch wenn das Urteil keine generelle Erlaubnis für das Kopftuch bedeutet, ist es sehr erfreulich", sagte Nurhan Soykan, Generalsekretärin des Zentralrates der Muslime in Deutschland (ZMD). Karlsruhe habe klargestellt, "dass das Kopftuch an sich keine Gefährdung des Schulfriedens bedeutet". Das sei ein richtiger Schritt, "weil es die Lebenswirklichkeit muslimischer Frauen in Deutschland würdigt und sie als gleichberechtigte Staatsbürger am gesellschaftlichen Leben partizipieren lässt".
Auch der Bayerische Lehrerverband (BLLV) freute sich über die Entscheidung des BVerfG. "Wir müssen heute veränderte gesellschaftliche Realitäten anerkennen und muslimischen Kindern und Jugendlichen islamischen Religionsunterricht an allen Schulen ermöglichen", sagte BLLV-Präsident Klaus Wenzel. Er appellierte an den Bayerischen Landtag, sich mit dem Thema zu befassen. Islamverbände machten schon seit längerem darauf aufmerksam, dass es wegen des Kopftuchverbots zu wenige Lehrerinnen für islamischen Religionsunterricht an deutschen Schulen gebe.
Verfassungsrechtler fürchtet jetzt erst recht Kritik am Kopftuch
Der Vorsitzende der Lehrerorganisation VBE, Udo Beckmann, hält das Nein des Bundesverfassungsgerichts zu einem pauschalen Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen hingegen für falsch. "Der Druck auf muslimische Mädchen wird größer, gegen ihren Willen ein Kopftuch zu tragen", sagte Beckmann. Er glaube nach wie vor, "dass das Tragen eines Kopftuches eine Verletzung der Neutralitätspflicht gegenüber den Schülern ist". Der Gesetzgeber müsse jetzt eine rechtssichere Lösung finden und dürfe "die Verantwortung nicht den Schulleitungen überlassen".
Diesen Kompromiss-Charakter der Entscheidung unterstreicht auch Verfassungsrechtler Wieland. "Was passiert, wenn Grundrechtspositionen zusammenstoßen, hat das BVerfG, indem es nur das abstrakte Verbot als unzulässig erachtet hat, ein solches aus konkreten Gründen im Einzelfall jedoch immer noch für möglich hält, offen gelassen".
Er fürchtet gar, dass die Begründung aus Karlsruhe denjenigen einen Anreiz geben könnte, die gegen das Kopftuchtragen sind. "Die Gegner des Kopftuchs könnten jetzt erst recht Kritik äußern und dadurch tatsächlich den Schulfrieden in Gefahr bringen". Der Senat stellt nämlich darauf ab, dass eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden, welche ein Verbot noch immer rechtfertigen kann, dann entstehen könnte, wenn insbesondere ältere Schüler oder Eltern sehr kontroverse Ansichten über die Frage des richtigen religiösen Verhaltens vertreten. Wenn sie ihre Auffassungen mit Nachdruck in die Schule hinein tragen, könnte die Sichtbarkeit der Bekleidung einen Konflikt schüren, welcher die schulischen Abläufe und die Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrages ernsthaft beeinträchtigen würde.
Auch wenn er die Abschaffung des pauschalen Verbots begrüßt, ist Wieland daher skeptisch: "Das schafft natürlich Probleme in der Umsetzung und kann gerade durch die Anreizwirkung tatsächlich den Schulfrieden in Gefahr bringen." Er wagt noch eine Prognose für die Abwägungsentscheidung: "Ich verstehe diese Passage im Urteil so, dass in einer solchen Konfliktsituation die Position der Kopftuchträgerinnen regelmäßig zurücktreten würde".
Mit Materialien von dpa.
Pia Lorenz und Anne-Christine Herr, BVerfG kippt pauschales Kopftuchverbot: . In: Legal Tribune Online, 13.03.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14941 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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