Ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrerinnen in öffentlichen Schulen ist nicht mit der Verfassung vereinbar. Das hat das BVerfG in einem am Freitag veröffentlichten Beschluss entschieden und gleich auch die Bevorzugung christlicher Werte und Traditionen für verfassungswidrig erklärt. Und dennoch könnte das Urteil am Ende gar den Kopftuchgegnern in die Hände spielen.
Ein pauschales Kopftuchverbot an Schulen verstößt gegen die in Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) garantierte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit. Das hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) bereits im Januar entschieden (Beschl. v. 27.01.2015, Az. 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10). Bekannt wurde der Kern des Beschlusses, der am heutigen Freitag offiziell veröffentlicht wurde, schon am Donnerstag. Auch die Privilegierung christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte bzw. Traditionen sei unzulässig, entschieden die Richtert. Zwei von ihnen folgten der Argumentation ihrer Kollegen nicht und gaben ein Sondervotum ab.
Nach § 57 Abs. 4 S. 1 und S. 2 des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes (SchulG NRW) dürfen Lehrerinnen und Lehrer in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnlichen äußeren Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Die Vorschrift untersagt insbesondere äußeres Verhalten, welches bei Schülern oder den Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass ein Lehrer gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt.
Das BVerfG hat nun entschieden, dass diese Norm verfassungskonform einzuschränken ist. Sie muss so ausgelegt werden, dass eine solche äußere religiöse Bekundung nur verboten werden darf, wenn sie zu einer hinreichend konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität führt. Ein pauschales Kopftuchverbot ist damit ausgeschlossen.
Die Privilegierung zugunsten christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen in § 57 Abs. 4 Satz 3 des SchulG NRW verstößt gegen das Verbot der Benachteiligung aus religiösen Gründen (Art. 3 Abs. 3 S. 1 und Art. 33 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG)), und ist daher nichtig, so die obersten deutschen Richter. Eine Nonnen-Tracht oder eine Kippa sind damit künftig nicht anders zu behandeln als ein Kopftuch.
Imperatives Bedeckungsgebot in der Öffentlichkeit
Geklagt hatten zwei Musliminnen deutscher Staatsangehörigkeit, die während ihrer Tätigkeit als Lehrerin bzw. Sozialpädagogin eine entsprechende Kopfbedeckung - alternativ eine Mütze und einen Rollkragenpullover - tragen wollten. Die Schulbehörden hatten dies verboten, ihre Klagen vor den Arbeitsgerichten blieben erfolglos.
Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion zu betrachten ist, dürfe das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religionsgemeinschaften und des einzelnen Grundrechtsträgers nicht außer Betracht bleiben, so die Karlsruher Richter. Die Schulen dürften jedoch prüfen und entscheiden, ob die Frauen tatsächlich die Religionsfreiheit für sich in Anspruch nehmen könnten.
Dies sei bei den beiden Klägerinnen der Fall. Es genüge, dass Bekleidungsvorschriften für Frauen unter den verschiedenen Richtungen des Islam verbreitet sind und insbesondere auf zwei Stellen im Koran zurückgeführt werden. Der Eingriff in ihre Glaubensfreiheit wiege schwer, insbesondere weil es sich um ein für sie imperatives Bedeckungsgebot in der Öffentlichkeit handele, welches ihre persönliche Identität berühre. Durch ein solches Verbot könnten sie - wie derzeit faktisch vor allem muslimische Frauen - von der qualifizierten beruflichen Tätigkeit als Pädagoginnen ferngehalten werden. Dies stehe zugleich in einem Spannungsverhältnis zum Gebot der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen.
BVerfG korrigiert eigene Rechtsprechung von 2003
Professor Joachim Wieland bewertet das Urteil als grundsätzlich positiv. "Das Verfassungsgericht hat hier der Grundrechtsposition der Lehrkräfte deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet als in der Entscheidung von 2003", meint der Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Die Entscheidung bewerte angemessen die Grundrechtspositionen der Beteiligten.
Im Jahr 2003 hatte Karlsruhe im Fall der Stuttgarter Lehrerin Fereshta Ludin entschieden, dass auch vorsorgliche Kopftuchverbote möglich sind - wenn es hierfür eine gesetzliche Grundlage gibt. Viele Bundesländer schufen daraufhin entsprechende Kopftuchverbote in ihren Schulgesetzen.
Die Grundsatzentscheidung aus Karlsruhe betrifft acht Länder, in denen entsprechende Verbotsgesetze gelten. Mit der Verwendung von religiösen Symbolen in Klassenzimmern hatte sich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits zu beschäftigen. Die Große Kammer des EGMR entschied im Jahr 2011, dass Kruzifixe in italienischen Klassenzimmern hängen dürfen.
Pia Lorenz und Anne-Christine Herr, BVerfG kippt pauschales Kopftuchverbot: . In: Legal Tribune Online, 13.03.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14941 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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