BVerfG rügt nachträgliche Kanalanschlussgebühr: Ände­rung der Rechts­lage als "Klar­stel­lung" getarnt

17.12.2015

Von Grundstückseigentümern wurden zu Unrecht Beiträge in Folge einer Änderung des KAG nachgefordert. Es habe sich um eine Gesetzesänderung, nicht bloß eine Klarstellung gehandelt, so das BVerfG, und für diese gelte das Rückwirkungsverbot.

In einem Beschluss von Donnerstag (Az. 1 BvR 2961/14 u. 1 BvR 3051/14) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zwei Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Berlin-Brandenburg über die Festsetzung von Beiträgen für den Anschluss von Grundstücken an die Kanalisation aufgehoben und die Sachen zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

Das Kommunalabgabengesetz (KAG) des Landes Brandenburg ist zum 1. Februar 2004 neu gefasst worden. Nach der alten Fassung konnte von den zwei Beschwerdeführern kein Beitrag für den Anschluss ihrer Grundstücke an die Kanalisation verlangt werden, nach der Neufassung hingegen schon.

Aus § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG in der alten Fassung ergab sich die Beitragspflicht, "sobald das Grundstück an die Einrichtung oder Anlage angeschlossen werden kann, frühestens jedoch mit dem Inkrafttreten der Satzung". Das OVG legte diese Formulierung in einem Urteil aus dem Jahr 2000 so aus, dass es "nicht auf die formelle und materielle Gültigkeit dieser Satzung, sondern ausschließlich auf den formalen Akt des Satungserlasses" ankomme. So wurde mit Wirkung zum 1. Februar 2004 die Norm dahingehend geändert (neue Fassung), dass die Beitragspflicht "frühstens [...] mit dem Inkrafttreten einer rechtswirksamen Satzung" entstehen soll.

In der Begründung des Änderungsentwurfs heißt es, die Rechtsprechung habe die alte Fassung entgegen der Intention des Gesetzgebers ausgelegt. Dies habe zu großen Beitragsausfällen geführt, da Ansprüche nicht mehr innerhalb der Festsetzungsverjährungsfrist hätten geltend gemacht werden können. Um künftige Beitragsausfälle zu vermeiden, werde eine "Klarstellung" vorgenommen. Nach Auffassung des BVerfG entfaltet diese Klarstellung bei den Beschwerdeführern eine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung.

Keine formelle, aber materielle Rückwirkung

Die Änderung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG in der neuen Fassung trat zwar nicht formell rückwirkend in Kraft, hat in den Fällen der Beschwerdeführer nach Auffassung des BVerfG aber einen materiell rückwirkenden Charakter. Dieser verletze die beiden Grundstückseigentümer in ihren Grundrechten aus Art. 2. Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes aus Art. 20 Abs. 3 GG.

Beide Grundstücke liegen in Cottbus. Die erste Beitragssatzung der Stadt, die sich in der Folge als unwirksam erwies, sollte zum 30. Juni 1993 in Kraft treten. Nach den Feststellungen der Verwaltungsgerichte trat aber erstmals zum 1. Januar 2009 eine wirksame Satzung in Kraft. Das Grundstück des einen Beschwerdeführers war bereits vor dem 3. Oktober 1990 an die Kanalisation anggeschlossen worden, der Bescheid über den Kanalanschlussbeitrag auf den 29. November 2011 datiert. Der andere Grundstückseigentümer wurde mit Bescheid vom 12. Mai 2009 zu einem Kanalanschlussbeitrag herangezogen worden, die Möglichkeit des Anschlusses an die Kanalisation hatte für sein Grundstück bereits kurz nach dem 3. Oktober 1990 bestanden.

Nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG a. F. war nach Auslegung des OVG der Zeitpunkt der ersten Beitragssatzung mit formellem Geltungsanspruch für das Entstehen der Beitragspflicht maßgeblich. Danach war unerheblich, ob die Satzung wirksam war oder nicht. In den Fällen der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt des Erlasses einer wirksamen Satzung die Festsetzungsfrist von vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die unwirksame Satzung in Kraft treten sollte, bereits abgelaufen. Damit war die Beitragspflicht nur für eine "juristische Sekunde" entstanden, dann aber sofort verjährt und damit erloschen.

Neufassung stellt nicht klar, sondern ändert Rechtslage

Bei § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG n. F. ist auf das Inkrafttreten einer rechtswirksamen Satzung abzustellen. So konnte in Fällen, in denen Beiträge nach der alten Rechtslage nicht mehr erhoben werden konnten, ein Grundstückseigentümer erneut zu Anschlussbeiträgen herangezogen wurden. Die Karlsruher Richter sehen hierin nicht nur eine bloße "Klarstellung", sondern eine konstitutive Änderung der alten Rechtslage. So entfalte die neue Fassung der Norm in den Fällen der beiden Beschwerdeführer eine "unzulässige, echte Rückwirkung". 

Zwar sei die Beitragspflicht in den beiden Konstellationen mangels wirksamer Satzung noch nicht entstanden und damit auch nicht wegen der Festsetzungsverjährung erloschen. Ein nachträglicher Eingriff in einen abgeschlossenen Sachverhalt liege aber dennoch vor, weil eine Veranlagung der Grundstücke der Beschwerdeführer zu einem Beitrag nicht mehr möglich gewesen wäre, wenn es bei der alten Rechtslage geblieben wäre.

Eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit echter Rückwirkungen könne nicht gemacht werden, da die Betroffenen nicht mit einer Rechtsänderung rechnen mussten. Das OVG hatte sich mit seinem Urteil von 2000 eindeutig dafür entschieden, den Interessen der Bürger im Konflikt mit den finanziellen Interessen der Gemeine den Vorrang zu geben.

Selbst wenn man § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG n. F. als unechte Rückwirkung qualifizieren würde, läge ein Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes vor. Denn diese unechte Rückwirkung stünde einer echten Rückwirkung jedenfalls im Ergebnis nahe, weshalb an ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung gesteigerte Anforderungen zu stellen wären. Bei einer solchen Gesamtabwägung hätte der Gesetzgeber ebenfalls dem gebotenen Vertrauensschutz nicht in hinreichendem Maß Rechnung getragen.

ms/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

BVerfG rügt nachträgliche Kanalanschlussgebühr: . In: Legal Tribune Online, 17.12.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17901 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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