Coronavirus: BVerfG ver­langt unver­züg­lich Triage-Rege­­lung

28.12.2021

Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen wollten vor dem BVerfG erreichen, dass der Gesetzgeber in Sachen Triage tätig wird. Laut BVerfG muss er nun unverzüglich handeln

Der Gesetzgeber muss Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen. So das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einem am Dienstag veröffentlichten Beschluss, der ohne mündliche Verhandlung erging (Beschl. v. 16.12.2021, Az. 1 BvR 1541/20). 

Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen hatten sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Untätigkeit des Gesetzgebers gewandt, der keine Vorgaben für die Triage-Situation gemacht habe. Sie befürchten, aufgrund ihrer Behinderung oder Vorerkrankung schlechter behandelt oder gar von einer lebensrettenden Behandlung ausgeschlossen zu werden. Die Erfolgsaussichten einer intensivmedizinischen Behandlung seien bei ihnen statistisch gesehen schlechter. In der Triage-Situation seien nach den bisherigen Empfehlungen aber gerade diese Erfolgsaussichten für die Zuteilung von medizinischen Ressourcen entscheidend.

Die Beschwerdeführenden sehen darin unter anderem eine Verletzung ihrer Menschenwürde und ihres Rechts auf Leben und Gesundheit. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wollten sie erzwingen, dass der Gesetzgeber verbindlich regelt, wen Ärzte und Ärztinnen in der Corona-Pandemie retten sollen und wen nicht.

Das BVerfG hat sich nun mit der Frage beschäftigt, ob der Gesetzgeber Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt hat, weil er keine Vorkehrungen getroffen hat um zu verhindern, dass niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird. Den entsprechenden Eilantrag lehnte das BVerfG im August 2020 auch deshalb ab, weil es eine Triage-Situation zum damaligen Zeitpunkt als nicht wahrscheinlich einstufte.

Update: Leitlinien reichen nicht

Im Hauptsacheverfahren gab das BVerfG nun den Beschwerdeführern weitestgehend recht. Der Gesetzgeber habe seine Schutzpflicht aus dem Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verletzt. Das BVerfG betont zwar, dass der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Wahrnehmung von Schutzpflichten habe. Daher könne das BVerfG die Verletzung einer Schutzpflicht nur feststellen, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen oder offensichtlich ungeeignet seien, das Schutzziel zu erreichen. Da der Gesetzgeber keine Vorkehrungen dazu getroffen hat, dass niemand bei einer Entscheidung über die Verteilung von pandemiebedingt knappen intensivmedizinischen Behandlungsressourcen aufgrund einer Behinderung benachteiligt wird, ist er diesem Schutzauftrag laut BVerfG nicht nachgekommen.

Es gebe auch Anhaltspunkte dafür, dass bei den behinderten und vorerkrankten Beschwerdeführenden das Risiko besteht, dass sie im Fall einer Triage-Situation benachteiligt werden. Das hätten mehrere sachkundige Dritte ausgeführt. In einer Rechtsordnung, die auf eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft ausgerichtet sei, könne eine Benachteiligung wegen einer Behinderung nicht hingenommen werden. Die Betroffenen könnten sich in einer Triage-Situation zudem nicht selbst schützen.

Die fachlichen Empfehlungen der DIVI für intensivmedizinische Entscheidungen bei pandemiebedingter Knappheit, auf die in diesem Zusammenhang vielfach verwiesen werde, beseitigten das Risiko einer Benachteiligung nicht. Sie seien rechtlich nicht verbindlich. Es sei zudem nicht ausgeschlossen, dass die Empfehlungen in ihrer derzeitigen Fassung zu einem "Einfallstor" für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden können.

BVerfG: In Triage darf allein nach aktueller und kurzfristiger Überlebenschance entschieden werden

Das BVerfG betont außerdem, dass der Gesetzgeber nicht nur dann einen Schutzauftrag habe, wenn der Ausschluss von behinderten Menschen allein auf staatliches Handeln zurückzuführen ist. Um behinderte Menschen vor Ausgrenzung zu bewahren, begründe Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auch einen Auftrag an den Gesetzgeber, sie vor einer Benachteiligung durch Dritte zu schützen.

Das BVerfG bezieht in seine Auslegung des Grundgesetzes auch die Behindertenrechtskonvention (BRK) sowie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ein.

Das BVerfG betont, im Falle einer Triage müsse sichergestellt sein, dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird. Dem Gesetzgeber steht laut BVerfG frei, wie er seinem Schutzauftrag nun nachkommt, sei es durch Regelungen des materiellen Rechts oder durch Regelungen des Verfahrensrechts, soweit dies für einen effektiven Grundrechtsschutz erforderlich ist.

Der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführenden Prof. Dr. Tolmein von der Kanzlei Menschen und Rechte begrüßt gegenüber LTO ausdrücklich die Entscheidung des BVerfG: "Der Beschluss unterstreicht, dass Artikel 3 Abs 3 Satz 2 GG eine Schutzpflicht des Gesetzgebers begründet und dass der Gesetzgeber mit Blick auf die drohende Triage gegen das Benachteiligungsverbot verstoßen hat! Das ist ein äußerst wichtiges Signal. Es ist auch sehr wichtig, dass das Bundesverfassungsgericht auf die Schutzregelung für Menschen in der UN-Behindertenrechtskonvention verweist. Ich hoffe, dass es jetzt sehr schnell zu Beratungen zwischen DIVI, Behindertenorganisationen und Bundestag kommt um hier einen Weg zu finden, wie Triage weiter verhindert und im schlimmsten Fall benachteiligungsfrei umgesetzt werden kann." Über die Hintergründe des Verfahrens berichtete Tolmein bereits im Interview mit LTO.

pdi/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

Coronavirus: . In: Legal Tribune Online, 28.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47051 (abgerufen am: 17.11.2024 )

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