Der Verfassungsschutz darf zu viele heimlich gesammelte Daten über Personen an Polizei und Staatsanwaltschaft weitergeben. Diese weitgehenden Übermittlungsbefugnisse verstoßen gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.
Mit der Übermittlung von heimlich gesammelten Personendaten an die Polizei und Staatsanwaltschaft verstößt der Verfassungsschutz bisher teilweise gegen das Grundgesetz. Die weitgehenden Übermittlungsbefugnisse sind nicht mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) vereinbar. Das entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) mit am Donnerstag veröffentlichtem Beschluss (Beschl. v. 28.09.2022, Az. 1 BvR 2354/13).
Der Beschwerdeführer soll nach Informationen der Nachrichtenagentur AFP Carsten S. sein, der im Prozess um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) rechtskräftig verurteilt wurde, hatte Verfassungsbeschwerde eingelegt und eine Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung gerügt.
Gegenstand der Entscheidung ist das Gesetz über die Rechtsextremismus-Datei (RED-G), das in einer langen Verweisungskette auf die Übermittlungsregelungen im Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) verweist: Nach § 20 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG übermittelt das Bundesamt für Verfassungsschutz personenbezogene Daten und Informationen an Polizeien und Staatsanwaltschaften, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten erforderlich ist. § 20 Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG definiert die Staatsschutzdelikte unter anderem als die in §§ 74a und 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) genannten Straftaten sowie sonstige Straftaten, die gegen die in Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 Buchstabe b oder c GG genannten Schutzgüter gerichtet sind.
§ 21 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG erstreckt die Übermittlungspflichten entsprechend auf die Verfassungsschutzbehörden der Länder. Auf diese Übermittlungsregelungen verweist wiederum das RED-G. Die Rechtsextremismus-Datei ist eine der Bekämpfung des gewaltbezogenen Rechtsextremismus dienende Verbunddatei, über die die zuständigen Behörden in Bund und Ländern Informationen austauschen. Dazu werden in ihr spezifische personenbezogene Daten gespeichert, wenn ihre Kenntnis für die Aufklärung oder Bekämpfung des gewaltbezogenen Rechtsextremismus erforderlich ist.
Undurchsichtige Verweisungen
Wie der Erste Senat nun entschied, verstoßen diese Vorschriften gegen die Normenklarheit und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zudem fehle es an einer spezifisch normierten Protokollierungspflicht.
Nach Ansicht der Richter regelt § 20 Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG die Voraussetzungen der Übermittlungspflicht nicht durchgehend normenklar. Verweisungen dürften nicht durch die Inbezugnahme von Normen, die andersartige Spannungslagen bewältigen, zu unklar werden und in der Praxis nicht zu übermäßigen Schwierigkeiten bei der Anwendung führen. Dies drohe in diesem Fall aber dadurch, dass zur Bestimmung der Straftaten, die eine Übermittlungspflicht auslösen, ohne weitere Einschränkung auf § 120 Abs. 2 GVG verwiesen wird.
Nach dieser Vorschrift wird die Zuständigkeit der Oberlandesgerichte für bestimmte Straftaten nur begründet, wenn der Generalbundesanwalt wegen der besonderen Bedeutung des Falles die Verfolgung übernimmt. Ob und inwieweit dieses Tatbestandmerkmal auch im Rahmen der – insbesondere gefahrenabwehrrechtlichen – Übermittlungspflicht zu berücksichtigen ist, lasse § 20 Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG in Verbindung mit § 120 Abs. 2 GVG nicht klar genug erkennen.
Übermittlung nur bei besonders schweren Straftaten
Die Übermittlungsbefugnisse verstoßen nach Ansicht des BVerfG zudem gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Die Richterinnen und Richter betonten zwar, dass die Befugnisse dem "legitimen Zweck" dienten, "Staatsschutzdelikte effektiv zu bekämpfen und damit einhergehend den Bestand und die Sicherheit des Staates sowie Leib, Leben und Freiheit der Bevölkerung zu schützen". Der Erste Senat hatte aber schon früher für den Austausch zwischen Nachrichtendiensten und Polizei besonders strenge Vorgaben gemacht.
Grund dafür sind die unterschiedlichen Aufgabenbereiche: Die verdeckt arbeitenden Geheimdienste haben sehr weitgehende Befugnisse, müssen sich aber auf Beobachtung und Aufklärung beschränken. Für das Eingreifen bei Straftaten ist die Polizei zuständig, die sich an strengere Regeln zu halten hat. Dabei darf das informationelle Trennungsprinzip darf nicht unterlaufen werden, indem die Nachrichtendienste ihre gesammelten Daten an die Polizei für deren Einsätze weiterreichen.
Konkret bedeutet das, dass die Übermittlung nur bei besonders schweren Straftaten erlaubt ist. Im BVerSchG war eine Weitergabe von Daten bisher auch bei bestimmten anderen Straftaten vorgesehen. Die Übermittlung sei jedoch nur "zum Schutz eines Rechtsguts von herausragendem öffentlichem Interesse zulässig", heißt es im Karlsruher Beschluss.
Die angegriffenen Normen gelten - mit Blick auf die betroffenen Grundrechte jedoch nach einschränkenden Maßgaben - bis zum 31. Dezember 2023 vorübergehend fort.
pab/LTO-Redaktion
Bundesverfassungsgericht: . In: Legal Tribune Online, 03.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50058 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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