Grundsätzlich können nationale Gerichte ICSID-Schiedsverfahren nicht vorab überprüfen. Ein ICSID-Schiedsverfahren nach dem Energiecharta-Vertrag verstößt aber gegen EU-Recht, "Intra EU" sind dann doch die Gerichte zuständig, so der BGH.
Gegen Schiedsverfahren, die von Investoren aus EU-Mitgliedstaaten nach dem Energiecharta-Vertrag vor dem International Centre for Settlement of Investment Disputes (ICSID) eingeleitet werden, haben EU-Mitgliedstaaten vorgelagerten nationalen Rechtsschutz. Das entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in drei Beschlüssen zu parallelen Verfahren (Beschl. v. 27.7.2023, Az. I ZB 43/22, I ZB 74/22, I ZB 75/22).
Das ICSID, Teil der Weltbankgruppe, wurde auf Grundlage des ICSID-Übereinkommens von 1965 errichtet. Diese in Washington, D.C. ansässige Schiedsinstitution gilt als wichtigste Stelle der Investitionsschiedsgerichtsbarkeit. Staaten und Investor:innen können bi- oder auch multilateral Investitionsschutzabkommen schließen. Bei Streitigkeiten in Zusammenhang mit diesen Investitionen sehen die Investitionsschutzabkommen regelmäßig Schiedsklauseln vor und es kommt zu den sogenannten Investor-Staats-Schiedsverfahren.
Da es sich um Schiedsverfahren handelt, liegen die Verfahrensfragen dabei grundsätzlich in der Hand der streitenden Parteien, sie können das Verfahren im gegenseitigen Einvernehmen frei gestalten. Sich auf jeden einzelnen Aspekt des Verfahrens zu einigen, kann aber sehr kosten- und vor allem zeitintensiv werden. Einrichtungen wie ICSID bieten daher für bestimmte Situationen – das ICSID etwa für Investitionsschiedsverfahren – fertige Verfahrensregeln sowie Räumlichkeiten, Sekretariate und administrative Unterstützung an.
Streit um von Energiewende betroffene Investitionen
Doch worum geht es nun vor dem BGH? Ändern Staaten ihre Gesetzgebung, kann das auch Investor:innen betreffen. So änderte Deutschland Gesetze im Bereich der Wind- und Solarenergie. Verschiedene Unternehmen aus europäischen Staaten, unter anderem der irische Konzern Mainstream Renewable Power und sowie verschiedene deutsche Unternehmen, die die Offshore Windparks Horizont I, II und III betreiben, gaben an, dadurch Schäden in Höhe eines dreistelligen Millionenbetrags zu erleiden.
Um die Abkehr von fossilen Energien ging es in zwei weiteren Verfahren: Die Niederlande beschlossen den Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2030, RWE und Uniper sahen dadurch Investitionen in niederländische Kohlekraftwerke im dreistelligen Millionenbereich bis hin zu einem einstelligen Milliardenbetrag gefährdet.
Die betroffenen Unternehmen leiteten deshalb Schiedsverfahren nach Art. 26 des Energiecharta-Vertrags ein. Dieser Vertrag soll Investitionen im Bereich des Energiesektors schützen und sieht als neutralen Streitbeilegungsmechanismus unter anderem die Möglichkeit eines Schiedsverfahrens vor. Dazu wandten sich die Unternehmen im vorliegendem Fall an ICSID, die Fälle wurden dort als ICSID Case No. ARB/21/4, No. ARB/21/26 und No. ARB/21/22 anhängig.
Kammergericht und OLG Köln uneinig
Die Staaten wehrten sich allerdings gegen die Einleitung der Schiedsverfahren. Deutschland beantragte vor dem Kammergericht Berlin die Feststellung der Unzulässigkeit des schiedsrichterlichen Verfahrens. Auch die Niederlande stellten einen solchen Antrag und zwar vor dem Oberlandesgericht Köln (OLG), da RWE und Uniper ihren satzungsmäßigen Sitz in Nordrhein-Westfalen (NRW) haben und für Streitigkeiten zu Schiedsverfahren für ganz NRW das OLG Köln zuständig ist. Grundlage der Anträge ist § 1032 Abs. 2 ZPO. Diese Regelung sieht vor, dass bis zur Bildung eines Schiedsgerichts – also vor Beginn des eigentlichen Schiedsverfahrens im engeren Sinne – vor deutschen Gerichten ein Antrag auf Überprüfung des schiedsrichterlichen Verfahrens gestellt werden kann.
Grundsätzlich bezieht sich die Regelung in der ZPO auf Schiedsverfahren nach §§ 1025 ff. ZPO. Fraglich war nun, ob § 1032 Abs. 2 ZPO auch bei Schiedsverfahren nach dem ICSID-Übereinkommen Anwendung findet. Die angerufenen Gerichte waren sich uneinig: Das Kammergericht wies den Antrag als unzulässig zurück (Beschl. v. 28.4.2022, Az. 12 SchH 6/21). Deutsche Gerichte seien nicht zuständig, da bei einem ICSID-Schiedsverfahren durch das ICSID-Übereinkommen abschließend geregelt sei, dass das Schiedsgericht selbst über die Zuständigkeit zu entscheiden habe. Das OLG Köln gab den Anträgen hingegen statt (Beschl. v. 1.9.2022, Az. 19 SchH 14/21, 19 SchH 15/21): Aus Sicht des Gerichts bestehe vorrangig geltendes Unionsrecht, das schon die Schiedsklausel aus dem Energiecharta-Vertrag unwirksam werden lasse, sodass gar kein ICSID-Schiedsverfahren zustande gekommen sei.
BGH folgt dem OLG Köln
Der BGH folgte in seinen Beschlüssen nun der Linie des OLG Köln und stellte die Unzulässigkeit der von den Investorunternehmen eingeleiteten ICSID-Schiedsverfahren fest. Der unter anderem für Schiedsvereinbarungen zuständige I. Zivilsenat klärte dazu zunächst die Zuständigkeit deutscher Gerichte, diese folge aus einer entsprechenden Anwendung des § 1025 Abs. 2 ZPO. Die Regelung bestimmt die Zuständigkeit deutscher Gerichte für Anträge nach § 1032 Abs. 2 ZPO auch für Fälle, in denen der Schiedsort im Ausland liegt oder unbestimmt ist. Bei ICSID-Schiedsverfahren bestehe nun kein Schiedsort, sodass die Regelung analog anzuwenden sei.
Dem stehe auch das ICSID-Übereinkommen nicht entgegen. Zwar legt dieses in Art. 41 Abs. 1 eine Kompetenz-Kompetenz des Schiedsgerichts fest, danach entscheidet das Schiedsgericht selbst über seine Zuständigkeit. Diese Regelung entfalte zwar grundsätzlich Sperrwirkung gegenüber § 1032 Abs. 2 ZPO, führt der BGH aus. Deutsche Gerichte seien nicht mehr zuständig, wenn ein ICSID-Schiedsverfahren registriert ist. Vorliegend bestehe diese Sperrwirkung aber ausnahmsweise nicht, da es sich um die besondere Konstellation eines sogenannten "Intra-EU-Investor-Staat-Schiedsverfahrens" handele.
Im Intra-EU-Kontext gilt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und es besteht ein Anwendungsvorrang des Unionsrechts auch gegenüber Völkerrecht. Der EuGH hält – entgegen dem ICSID-Übereinkommen – die Kontrolle eines ICSID-Schiedsspruchs durch staatliche Gerichte für zwingend erforderlich. In Deutschland könne dies laut dem BGH auch durch eine vorgezogene Kontrolle im Sinne des § 1032 Abs. 2 ZPO durch ein deutsches Gericht erfolgen. Deshalb sei die Regelung in den vorliegenden Fällen entgegen der Sperrwirkung des ICSID-Übereinkommens aufgrund des Verfahrens innerhalb der EU anwendbar.
Schiedsklausel des Energiecharta-Vertrages verstößt gegen Unionsrecht
Da die Prüfung der Schiedsklauseln durch deutsche Gerichte damit also möglich ist, prüfte der BGH die in Rede stehenden Schiedsvereinbarungen. Diese verstießen nun laut dem BGH gegen Unionsrecht. Nach Art. 267 und 344 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) ist für Streitigkeiten von Mitgliedstaaten, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, kein Schiedsverfahren möglich. Entsprechende Vereinbarungen in Investitionsschutzabkommen – wie eben der Art. 26 des Energiecharta-Vertrages – sind nach Rechtsprechung des EuGH unwirksam.
Denn Art. 26 des Energiecharta-Vertrages stelle ein so genanntes "stehendes Angebot" der Staaten dar. Ein Schiedsverfahren setzt stets die Zustimmung beider Streitparteien voraus. Die Schiedsklausel aus dem Energiecharta-Vertrag ist nun als eine solche Zustimmung aller Vertragsparteien der Energiecharta zu einem entsprechenden Schiedsverfahren zu lesen. Dieses Angebot "steht" also im Raum und die Investor:innen können es annehmen. Dadurch käme ein Schiedsverfahren zustande.
Handelt es sich bei dem Staat um einen Mitgliedstaat der EU, wäre bei einem solchen Schiedsverfahren im Bereich des Energiecharta-Vertrages allerdings Unionsrecht betroffen. Geht es um Unionsrecht, sind Investor-Staat-Schiedsverfahren aber nach ständiger Rechtsprechung des EuGH unzulässig. Ein EU-Mitgliedstaat darf eine Zustimmung zu einem solchen Schiedsverfahren nicht abgeben. Daher stellte der BGH fest, dass Art. 26 des Energiecharta-Vertrages, der genau so eine unzulässige Zustimmung enthält, unwirksam sei. Daher sei kein Schiedsvertrag beim ICSID zustande gekommen.
In einem der Verfahren vor dem OLG Köln war außerdem beantragt worden, festzustellen, dass dies auch für alle zukünftigen Fälle gelte. Diesen Antrag wies der BGH jedoch als unzulässig zurück. Nach § 1032 Abs. 2 ZPO könne nicht über potentiell stattfindende Schiedsverfahren, sondern nur über konkrete Schiedsvereinbarungen entschieden werden.
Abkehr vom Völkerrecht zugunsten des Unionsrechts: Besorgniserregend?
Eine erste Einordnung der Entscheidung des BGH kommt von Arne Fuchs, Partner im Bereich Dispute Resolution und Leiter der globalen Praxisgruppe für Völkerrecht und Investitionsschiedsverfahren bei Ashurst in Frankfurt. Er bewertet die Beschlüsse als "rechtsstaatlich zutiefst besorgniserregend". Im Kern gehe es um die Frage, ob Deutschland Pflichten aus völkerrechtlichen Verträgen ignorieren könne. Fuchs konstatiert: "Der BGH bejaht dies mit seinen Entscheidungen nicht nur, er begründet selbst eine Verletzung dieser Pflichten."
Dies sei nun gerade angesichts des russischen Angriffskrieges "erschütternd". "Die Bundesrepublik Deutschland, auch und insbesondere ihr Bundesgerichtshof, muss geltendes Völkerrecht verteidigen und dies nicht untergraben", fordert Fuchs.
Der Bruch von völkerrechtlichen Verträgen könnte nach Vorschlag der Europäischen Kommission idealerweilse durch einen gemeinsamen Austritt der EU-Mitgliedstaaten aus dem Energiecharta-Vertrag vermieden werden. Dies schlug die Kommission bereits Anfang Juli vor. Der Vertrag sei seit den 1990er Jahren nicht mehr verändert worden und sei in weiten Teilen gerade in Bezug auf den Green Deal nicht mehr mit dem Unionsrecht vereinbar.
Die Bundesregierung beschloss den Austritt Deutschlands bereits Ende des vergangenen Jahres. Die Ausstiegsfrist beträgt allerdings 20 Jahre. Italien trat 2016 aus. Andere EU-Länder wie Frankreich, die Niederlande und Spanien haben den Rückzug ebenfalls angekündigt.
Mit Materialien der dpa
BGH zu Schiedsverfahren: . In: Legal Tribune Online, 27.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52355 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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