Pflegeheimbetreiber haben ihre Bewohner auch vor unwahrscheinlichen Gefahren zu schützen, wenn diese schwere Folgen haben können, so der BGH. Es geht um den Sturz eines an Demenz erkrankten Mannes aus dem Fenster seiner Einrichtung.
Pflegeheime müssen zukünftig genauer darauf achten, dass sie auch schwer demente Bewohner sicher unterbringen. Anhand eines Falls aus Bochum entschied der Bundesgerichtshof (BGH) am Donnerstag, dass an Demenz Erkrankte bei erkannter oder erkennbarer Selbstschädigungsgefahr nicht im Obergeschoss mit leicht erreichbaren, einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden dürfen. Der vorsitzende Richter machte aber deutlich, dass immer im Einzelfall Gefahren und Krankheitsbilder beurteilt werden müssten (Urt. v. 14.01.2021, Az. III ZR 168/19).
Konkret hatte der Dritte Zivilsenat des BGH es mit einem tragischen Fall zu tun: Im Sommer 2014 war ein Demenzpatient aus einem Dachfenster im dritten Obergeschoss der Bochumer Einrichtung gestürzt und Monate später trotz vieler Operationen an den Folgen gestorben.
Seine Ehefrau wollte mindestens 50.000 Euro Schmerzensgeld vom Heimbetreiber, weil dieser aus ihrer Sicht nicht genügend Vorsorge zum Schutz ihres Mannes getroffen hatte. So habe der Abstand zwischen Fußboden und Fenster 1,20 Meter betragen. Vor dem Dachfenster hätten sich jedoch ein 40 Zentimeter hoher Heizkörper sowie in 70 Zentimetern Höhe eine Fensterbank befunden. Es hätte schon eine Vorrichtung gereicht, mit der man die Fenster nur einen Spalt weit öffnen kann, sagte der Anwalt der Witwe in der Verhandlung.
Der Vertreter der SBO Senioreneinrichtungen der Stadt Bochum gGmbH verwies darauf, dass der 64-Jährige noch sehr mobil gewesen sei und man dann alle Fenster in dem Gebäude hätte entsprechend ausrüsten müssen. Das sei mit Blick auf die Freiheit der anderen Bewohner nicht angemessen gewesen, sagte er. Anders als die klagende Witwe sah der Heimbetreiber auch keine Gefahr, dass der Mann aus dem Fenster klettern konnte. Sowohl das Landgericht (LG) Bochum als auch das OLG Hamm als vorherige Instanzen hatten ihr das Geld verwehrt. Gegen das Berufungsurteil legte die Frau Revision ein.
Gab es Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung?
Der BGH hat nun entschieden, dass das OLG den Fall noch einmal neu beurteilen muss. Im ersten Urteil sei das gesamte Krankheitsbild des Mannes nicht ausreichend beachtet worden. Er sei noch sehr mobil gewesen, zugleich aber unruhig und desorientiert. Außerdem habe er Gedächtnisstörungen und Selbstgefährdungstendenzen gehabt. Durch den Heizkörper und das Fensterbrett habe er das Dachfenster treppenartig erreichen können. Die Beurteilung des OLG für das Risiko eines Unfalls berücksichtige aber nicht all diese Faktoren, sagte der Vorsitzende. "Die Vorinstanz schöpft den Sachverhalt nicht voll aus."
Grundsätzlich geht aus der Entscheidung aber hervor, dass ein dementer Pflegeheimbewohner nicht in einer Wohnung im Obergeschoss mit leicht zugänglichen und einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden darf, wenn dieser sich selbst schädigen könnte. Heimbetreiber hätten die Pflicht, Bewohner vor diesen Gefahren zu schützen, die sie selbst nicht beherrschen.
Der Dritte Senat machte aber deutlich, dass der Pflichtenkatalog in derartigen Fällen immer nur für den Einzelfall beurteilt werden kann. Der Heimbetreiber befindet sich in einem Spannungsfeld "einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich oder geistig beeinträchtigten Heimbewohners zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen."
Die entscheidende Frage ist deshalb, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Bewohner sich selbst gefährdend könnte. Bejaht man dies, erweitert sich der Pflichtenkreis und der Heimbetreiber hat zusätzliche, besondere Sicherungsmaßnahmen zu treffen.
Auch unwahrscheinliche, aber folgenschwere Umstände sind zu berücksichtigen
Dabei komme es nicht entscheidend darauf an, ob ein solcher Unglückfall nahe gelegen hat, da auch eine Gefahr, deren Verwirklichung nicht sehr wahrscheinlich sei, aber zu besonders schweren Folgen führen könne, Sicherungspflichten des Heimträgers auslösen könne, schreibt der BGH in seinem Urteil.
Die Abwägungsentscheidung konnte der BGH aber nicht vornehmen, weil das Berufungsgericht diesen Punkt "übersehen" habe. Es hat zwar die örtlichen Umstände aber nicht das Krankheitsbild des mittlerweile verstorbenen Mannes vollständig ermittelt.
Für das neue Verfahren vor dem OLG Hamm kommt es also darauf an, nachträglich eine "medizinische Risikoprognose" für den schwer dement kranken Mann aufzustellen. Davon abgeleitet wird sich dann die Frage beantworten lassen, ob das leicht zu öffnende Fenster im Obergeschoss des Pflegeheims nicht besonders hätte gesichert werden müssen.
mgö/LTO-Redaktion
Mit Materialien der dpa
BGH zu Pflichten von Pflegeheimbetreibern: . In: Legal Tribune Online, 14.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43991 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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