Arbeitnehmern können unter Umständen mehrere Entschädigungsansprüche zustehen. Solche aus dem Sozialplan und dem gesetzlichen Nachteilsausgleich kann der Arbeitgeber aber verrechnen, so das BAG. Pascal Kremp und Thomas Wiedmann zum Urteil.
Abfindungen aufgrund eines Sozialplans und aufgrund eines gesetzlichen Nachteilsausgleichs sind verrechenbar. Das hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) am Dienstag entschieden (Urt. v. 12.02.2019, Az. 1 AZR 279/1). Damit haben die Erfurter Richter eine lange im Raum stehende Frage beantwortet.
Grundsätzlich sind Massenentlassungen für Arbeitgeber ein arbeitsrechtliches Minenfeld. Beabsichtigt ein Arbeitgeber einen erheblichen Personalabbau, muss er zwei Verfahren mit dem Betriebsrat beachten. Beide Verfahren laufen in der Praxis meistens parallel, sind aber streng voneinander zu unterscheiden.
Zum einen muss der Arbeitgeber gemäß §§ 111 ff. Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) einen Interessenausgleich und Sozialplan mit dem Betriebsrat versuchen. Über die beabsichtigte Maßnahme muss er diesen rechtzeitig und umfassend unterrichten. Verstößt der Arbeitgeber gegen diese Pflicht und beginnt vorzeitig mit der Umsetzung der Maßnahme, insbesondere dem Ausspruch von Kündigungen, können die hiervon betroffenen Mitarbeiter einen sogenannten Nachteilsausgleichanspruch geltend machen.
Kommt es später dennoch zum Abschluss eines Sozialplans, kann der Arbeitgeber den Nachteilsausgleichsanspruch auf die Sozialplanabfindung anrechnen. Dies gilt selbst dann, wenn der Sozialplan keine ausdrückliche Anrechnung vorsieht. Dies hat das BAG bereits 2001 entschieden (Urt. v. 20.11.2001, Az. 1 AZR 97/01) und ist seitdem ständige Rechtsprechung.
Zum anderen muss der Arbeitgeber das Massenentlassungsverfahren gemäß §§ 17 f. Kündigungsschutzgesetz (KSchG) beachten. Dieses Verfahren geht auf die EU-Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/95/EG) zurück. Mehrere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) haben in den vergangenen Jahren zu erheblichen Unsicherheiten in der Praxis geführt. Im Rahmen dieses Verfahrens muss der Arbeitgeber den Betriebsrat ebenfalls rechtzeitig unterrichten und mit ihm beraten, insbesondere über die Gründe der geplanten Entlassungen und die betroffenen Mitarbeiter.
Zudem muss der Arbeitgeber die beabsichtigten Kündigungen vor deren Ausspruch der zuständigen Agentur für Arbeit anzeigen. Das Gesetz selbst sieht keine unmittelbaren Rechtsfolgen für den Fall vor, dass der Arbeitgeber gegen die Unterrichtungs- und Konsultationspflichten gegenüber dem Betriebsrat verstößt. Das BAG hat aber 2013 entschieden, dass in diesem Fall eine dennoch ausgesprochene Kündigung unwirksam ist (Urt. v. 21.03.2013, Az. 2 AZR 60/12).
Worum es im aktuellen Fall ging
In dem von den Erfurter Richtern am Dienstag entschiedenen Fall ging es erneut um die Frage der Anrechenbarkeit eines Nachteilsausgleichsanspruchs auf eine Sozialplanabfindung.
Der beklagte Arbeitgeber beschloss im März 2014 die Stilllegung des Betriebs, in dem der klagende (Ex-)Mitarbeiter beschäftigt war. Der Arbeitgeber unterrichtete den Betriebsrat und versuchte - jedenfalls kurz - auch einen Interessenausgleich. Es erfolgte auch eine Unterrichtung des Betriebsrats über die geplanten Massenentlassungen. Noch bevor beide Verfahren ordnungsgemäß abgeschlossen wurden, kündigte der Arbeitgeber jedoch die Arbeitsverhältnisse aller im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer betriebsbedingt. Im Nachgang schlossen Arbeitgeber und Betriebsrat gleichwohl noch einen Sozialplan ab. Zur Anrechnung eines Nachteilsausgleichs wurde nichts weiter geregelt.
Da der beklagte Arbeitgeber unter Verstoß gegen seine Beratungspflichten über den Interessenausgleich vorzeitig die Kündigung ausgesprochen hatte, erstritt der klagende ehemalige Mitarbeiter in einem Vorverfahren einen Nachteilsausgleich in Höhe von 16.307,20 Euro. Zudem machte er nun auch die Sozialplanabfindung in Höhe von 9.000,00 Euro geltend.
Sein Argument: Eine Anrechenbarkeit des Nachteilsausgleichs auf die Sozialplanabfindung verstoße gegen die EU-Massenentlassungsrichtlinie. Zudem habe der ehemalige Arbeitgeber den Betriebsrat weder ausreichend über die geplante Massenentlassung informiert noch substanzielle Verhandlungen und Erörterungen mit dem Betriebsrat geführt.
BAG: Unwirksamkeit der Kündigung als Sanktion abschreckend genug
Bereits die Vorinstanz (LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29.03.2017, Az. 4 Sa 1619/16) war der Ansicht, dass der Anspruch auf Sozialplanabfindung durch Auszahlung des Nachteilsausgleiches erfüllt worden sei. Ein Sozialplananspruch und ein Nachteilsanspruch könnten nicht kumulativ verlangt werden, da zwischen den Abfindungen eine partielle Zweckidentität bestünde. Sowohl die Sozialplanabfindung als auch der Nachteilsausgleich dienten dem Ausgleich und der Milderung wirtschaftlicher Nachteile.
Nach der nunmehr veröffentlichten Pressemitteilung erteilte das BAG der Auffassung des klagenden Ex-Arbeitnehmers ebenfalls eine Absage. Ein Nachteilsausgleich könne auf eine Sozialplanabfindung auch dann angerechnet werden, wenn der Arbeitgeber seiner Konsultationspflicht im Rahmen von Massenentlassungen nicht nachkommt.
Zwar verpflichte Art. 6 der EU-Massenrichtlinie die Mitgliedstaaten dazu, dafür Sorge zu tragen, dass administrative und/oder gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung der Verpflichtungen des Arbeitgebers zur Verfügung stehen. Da die Richtlinie keine konkreten Sanktionen benennt, liege die Wahl der Sanktion aber beim nationalen Gesetzgeber. Und eine ausdrückliche Rechtsfolge für einen Verstoß gegen die Konsultationspflichten habe der deutsche Gesetzgeber eben nicht getroffen.
Wie eingangs bereits erwähnt hat das BAG aber 2013 entschieden, dass ein Verstoß zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Die Erfurter Richter bleiben somit bei ihrer Auffassung, dass die Unwirksamkeit der Kündigung eine ausreichend abschreckende Sanktion im Sinne der EU-Massenentlassungsrichtlinie ist. Einer weiteren Sanktion im Sinne eines zusätzlichen Entschädigungsanspruchs bedürfe es nicht.
Was das Urteil für die Praxis bedeutet
Für die Praxis bedeutet die vorliegende Entscheidung einen Gewinn an Rechtssicherheit. Entgegen einiger Stimmen in der Literatur und einzelner Landesarbeitsgerichte (u.a. LAG Hessen, Urt. v. 17.02.2006, Az. 17 Sa 1305/05) hat das BAG damit klargestellt, dass ein Arbeitgeber berechtigt ist, den Nachteilsausgleich sowohl bei Verstößen gegen das Betriebsverfassungsgesetz als auch gegen die Massenentlassungsrichtlinie voll auf eine Sozialplanabfindung anzurechnen. Dies gilt selbst dann, wenn der Sozialplan keine ausdrückliche Anrechnung vorsieht.
Der Nachteilsausgleich bleibt damit weiterhin ein eher stumpfes Schwert. Arbeitgeber sind wegen der drohenden Unwirksamkeit der Kündigungen gleichwohl gut beraten, die Konsultationspflichten zu Massenentlassungen sowie die hohen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige ernst zu nehmen. Zudem gestehen mehrere Arbeitsgerichte dem Betriebsrat einen betriebsverfassungsrechtlichen Unterlassungsanspruch gegen den Arbeitgeber zu, falls dieser vorzeitig mit der Umsetzung der beabsichtigten Maßnahmen, insbesondere mit dem Ausspruch von Kündigungen, beginnt.
Der Autor Pascal Kremp, LL.M. ist Rechtsanwalt und Partner im Münchener Büro der internationalen Anwaltskanzlei DLA Piper. Er berät Unternehmen insbesondere bei nationalen und grenzüberschreitende Umstrukturierungen und Massenentlassungen, M&A Transaktionen, Betriebsübergängen, Outsourcing-Projekten, Verhandlungen mit Betriebsräten und Gewerkschaften, Auseinandersetzungen mit Betriebsräten sowie zu allen Fragen des Individualarbeitsrechts.
Der Autor Thomas Wiedmann ist Rechtsanwalt und Associate im Münchener Büro von DLA Piper. Er berät deutsche und internationale Unternehmen in allen Bereichen des Individual- und Kollektivarbeitsrechts sowie zu hieran anknüpfenden Fragen anderer Rechtsgebiete.
Sozialplanabfindung und Nachteilsausgleich: . In: Legal Tribune Online, 13.02.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33833 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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