Am Donnerstag einigten sich die EU-Innenminister auf eine Asylreform. Lange war unklar, ob es einen Kompromiss geben wird – nach jahrelangem Ringen. Die Reaktionen fallen gemischt aus, Kritiker sprechen von einem Ausverkauf der Menschenrechte.
Historisch war die spät am Donnerstag vermeldete Einigung der EU-Innenminister zur geplanten Asylrechtsreform in jedem Fall, denn bis zum frühen Abend war nicht klar, ob der Vorschlag die erforderliche Ratsmehrheit erreichen würde.
Welches Wort dem Attribut "historisch" nachfolgen soll, darüber wird seitdem eifrig gestritten: Von einer "historischen Schande" spricht der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) gegenüber LTO, die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl bezeichnet das Ergebnis auf Twitter als "historischen Fehler". Deutschlands Verhandlungsführerin in der Sache, Innenministerin Nancy Faeser, hingegen verteidigt die Einigung im Rat als "historischen Erfolg".
Auffanglager im Zentrum der Kritik
Die Innenminister der EU-Staaten waren am Donnerstag zu einer Ratssitzung zusammen gekommen, um das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) zu reformieren. Dem neuerlichen Einigungsversuch geht ein jahrelanges Ringen voraus. Kernidee der Reform ist eine möglichst frühe Filterung derjenigen, die nur geringe Aussichten auf eine Asylanerkennung haben. Sie sollen gar nicht erst in die EU gelangen. Diejenigen, bei denen bessere Chancen auf einen Verbleib bestehen, durchlaufen das übliche Asylverfahren. Allerdings wird ihre Verteilung unter den Mitgliedstaaten neu geregelt.
Damit geht ein deutlich härterer Umgang mit Geflüchteten ohne oder mit nur geringer Bleibeperspektive einher. So sollen ankommende Menschen aus als sicher geltenden Ländern künftig nach dem Grenzübertritt unter haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen. Dort würde dann im Normalfall innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat. Wenn nicht, soll er umgehend zurückgeschickt werden. Das Verfahren soll maximal sechs Monate dauern.
An dieser Regelung entlädt sich die Hauptkritik. Insbesondere werden Zustände wie im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos erwartet, etwa von der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament: "Wir befürchten menschenrechtswidrige Masseninternierungen an den EU-Außengrenzen", so Rasmus Andresen, Sprecher der deutschen Gruppe in der Fraktion.
Kritiker sagen daher, die Bundesregierung hätte dem Beschluss so nicht zustimmen dürfen, darunter auch Grünen-Parteichefin Ricarda Lang. Deutlicher wird der RAV gegenüber LTO, der "den Rechtsstaat außer Kraft gesetzt" sieht. In die gleiche Kerbe schlägt Pro Asyl, die Organisation spricht von einem "Ausverkauf der Menschenrechte".
Neben den verschärften Asylverfahren sehen die am Donnerstag beschlossenen Pläne auch mehr Solidarität mit den stark belasteten Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen vor. Damit sich die Lage von 2015/16 nicht wiederholt, soll die Aufnahme von Geflüchteten durch die EU-Mitgliedstaaten künftig nicht mehr freiwillig, sondern verpflichtend sein. Länder, die keine Geflüchteten aufnehmen wollen, sollen zu Ausgleichszahlungen gezwungen werden. Polen und Ungarn stimmten daher gegen den Plan.
"Nationalstaatliche Abschottung" als Alternative?
Doch ob ein Scheitern der Reform die bessere Alternative gewesen wäre, wird kontrovers diskutiert. "Ein Nein oder eine Enthaltung Deutschlands zu der Reform hätte mehr Leid, nicht weniger bedeutet", so Außenministerin Annalena Baerbock – nämlich "dass Familien und Kinder aus Syrien oder aus Afghanistan, die vor Krieg, Folter und schwersten Menschenrechtsverletzungen geflohen sind, ewig und ohne Perspektive an der Außengrenze festhängen."
Im aktuellen Dublin-System sind die Länder, durch welche Migranten erstmalig in die EU eintreten, für die Registrierung zuständig. Dieses System jedoch zeigte in der Flüchtlingskrise von 2015 und 2016 seine Schwachstellen, als Griechenland und andere Länder mit dem Zustrom aus Nationen wie Syrien überwältigt waren.
Ein "Weiter-so" hätte laut Innenministerin Nancy Faeser zur Folge gehabt, dass Geflüchtete aufgrund der Überforderung der südeuropäischen Staaten an den Grenzen anderer, nicht aufnahmebereiter EU-Staaten festgehalten werden. Sie hatte daher schon im Vorfeld des Ministertreffens davor gewarnt, ein Scheitern des Reformvorhabens führe zu mehr "nationalstaatlicher Abschottung". Sinngemäß äußert sich Wirtschaftsminister Robert Habeck: "Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Lage an den Außengrenzen ist seit Jahren ein Elend, andere Staaten fahren einen restriktiven Kurs und die Gefahr, in Nationalismen zurückzufallen, ist groß."
Doch auch bei denen, die den Kompromiss im Ergebnis verteidigen, bleibt ein fader Beigeschmack: (Zu) hart treffe es Menschen aus Ländern, die von den Behörden der Zielstaaten überwiegend als sicher erachtet werden. Aber am Verhandlungstisch ist eine Regelung oft nicht ohne die andere möglich. "Ohne diese Grenzverfahren hätte sich niemand außer Deutschland an dem Verteilmechanismus beteiligt", so Baerbock.
Sie betonte, die Bundesregierung habe gemeinsam mit der EU-Kommission dafür gesorgt, dass die Grenzverfahren nur für einen kleinen Teil der Geflüchteten gelten würden - "nämlich für jene, die kaum darauf hoffen können, dass ihr Asylantrag positiv entschieden wird". Für den Großteil der Geflüchteten, die an der Außengrenze ankommen - also Syrer, Afghaninnen, Iraker - würden diese nicht gelten. "Wenn wir die Reform als Bundesregierung alleine hätten beschließen können, dann sähe sie anders aus", so Baerbock.
Keine Ausnahme für Familien mit Kindern
Damit spielt die Grünen-Politikerin auf einen Punkt an, an dem sich die Bundesregierung am Ende nicht durchsetzen konnte. Sie hatte auf Drängen der Grünen in den Vorgesprächen zu dem Innenministertreffen gefordert, dass Familien mit Kindern von neuen strengen Grenzverfahren ausgenommen werden. Zu groß war am Ende das Verhandlungsgewicht der Staaten, die dies ablehnen, weil durch eine solche Regelung den Abschreckungscharakter gefährdet sei. Lediglich unbegleitete Minderjährige sollen von dem Schnellverfahren ausgeschlossen sein.
"Wir haben hart dafür gekämpft, Kinder und ihre Familien auszunehmen, leider ziemlich alleine", so Baerbock resigniert. Laut Verhandlungsführerin Nancy Faeser hat die Bundesregierung ihre von der Mehrheit abweichende Position allerdings zu Protokoll geben lassen. Diese Protokollnotiz lautet: "Deutschland, Irland, Luxemburg und Portugal weisen darauf hin, dass uns Ausnahmen vom Grenzverfahren für Minderjährige und ihre Familienangehörigen sehr wichtig bleiben. In den Trilogverhandlungen werden wir uns weiter dafür einsetzen."
Europäisches Parlament muss Reform nun billigen
Trilog – das ist das Gespräch des Rates mit den beiden anderen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten EU-Institutionen: Kommission und Parlament. Insbesondere im Parlament stehen nun weitere Debatten an. Die EU-Staaten haben ihre Position für diese Gespräche nun festgelegt. Dass die einzelnen Fraktionen im Parlament dem Kompromiss zustimmen, ist nicht gesichert.
Bei der Grünen-Faktion im Parlament etwa stößt der Beschluss vom Donnerstag auf Ablehnung. Die zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson dagegen erwartet keine besonders harten Verhandlungen. Die vereinbarten Pläne werden nach ihrer Einschätzung nicht am Widerstand aus dem Europaparlament scheitern. "Ich denke, auch das Parlament hat den historischen Moment erkannt", sagte sie am Freitag am Rande eines Justizministertreffens in Luxemburg.
Die noch ausstehenden Verhandlungen sollen im Idealfall noch vor Ende des Jahres abgeschlossen werden. Dann könnten die Gesetze noch vor der Europawahl im Juni 2024 beschlossen werden.
mk/dpa/LTO-Redaktion
Gemischte Reaktionen auf geplante Asylreform: . In: Legal Tribune Online, 09.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51961 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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