Ist es rechtmäßig, bei Totgeburten Mutterschutz zu gewähren, bei Fehlgeburten aber nicht? Diese Frage bleibt vorerst offen. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde von vier Frauen verworfen. Eine Tendenz lässt Karlsruhe aber erkennen.
Sie alle haben ihr ungeborenes Kind verloren und sie alle zogen nach Karlsruhe mit einem Ziel: Mutterschutz muss es auch nach Fehlgeburten geben. Quasi als Schicksalsgemeinschaft erhoben vier betroffene Frauen Verfassungsbeschwerde gegen die aktuellen gesetzlichen Regelungen im Mutterschutzgesetz (MuSchG) beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Allerdings ohne Erfolg. Denn zum einen sei die Verfassungsbeschwerde nicht fristgerecht eingelegt worden. Zum anderen hätten die Betroffenen ihr Begehren erst vor den Fachgerichten verfolgen müssen. Das BVerfG nahm die Beschwerde daher nicht zur Entscheidung an (Beschl. v. 21.08.2024, Az. 1 BvR 2106/22).
Das aktuelle Problem: § 3 MuSchG sieht vor, dass Frauen nach einer "Entbindung" nicht beschäftigt werden dürfen. Während dieser Schutzfrist haben sie gegen ihre Krankenkassen einen Anspruch auf Mutterschaftsgeld. Was unter einer Entbindung zu verstehen ist, muss ausgelegt werden. Bislang wurde dazu auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts unter Bezugnahme des Personenstandsgesetzes zurückgegriffen, wonach eine Entbindung nur dann vorliegt, wenn ein Kind nach der 24. Schwangerschaftswoche oder mit einem Gewicht von mehr als 500 Gramm zur Welt kommt. Diese Auslegung bedeutet auch, dass Fehlgeburten nicht zu Entbindungen gezählt werden. Oscar Genter hatte diese Ungleichheit in seinem Hintergrundartikel "Morgens Fehlgeburt, nachmittags zur Arbeit?" ausführlich in der LTO dargelegt.
Diese Ungleichbehandlung halten auch die vier beschwerdeführenden Frauen für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 Grundgesetz (GG). Mit dieser Auffassung sind sie nicht alleine: Auch in der Politik hat man den Reformbedarf erkannt. Die Ampel hat eine entsprechende Gesetzesänderung im Koalitionsvertrag vorgesehen.
Verspätet und übereilt zugleich
Auf eine richtungsweisende Entscheidung des BVerfG müssen wir allerdings weiterhin warten. Die eingelegte Verfassungsbeschwerde sei bereits verfristet, so das Karlsruher Gericht. Für Verfassungsbeschwerden, die sich gegen Normen richten, gilt gemäß § 93 Abs. 3 Alt. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) eine Frist von einem Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes. Das MuSchG trat jedoch schon im Januar 2018 in Kraft. Die Frist war daher im November 2022, als die Verfassungsbeschwerde erhoben wurde, bereits abgelaufen.
Es müsse auch nicht ausnahmsweise auf den Zeitpunkt der erstmaligen Beschwer – also auf die Fehlgeburten, zu denen es erst kam, nachdem das MuSchG schon in Kraft getreten war – abgestellt werden, so das BVerfG. Denn zum einen wäre auch in diesem Fall die Frist in drei der vier Fällen schon abgelaufen gewesen. Zum anderen entstehe durch die Jahresfrist auch kein Rechtsschutzdefizit, schließlich hätten die Frauen die Verfassungswidrigkeit des § 3 MuSchG auch durch die Fachgerichte prüfen lassen können.
Da sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht haben, sei zeitgleich auch der Grundsatz der Subsidiarität nicht gewahrt. § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG schreibt vor, dass eine Verfassungsbeschwerde erst erhoben werden kann, wenn zuvor der Rechtsweg erschöpft worden ist. Die Frauen hätten also vor dem Gang nach Karlsruhe versuchen müssen, Ansprüche auf Mutterschaftsgeld gegen die Krankenkassen geltend zu machen oder eine Klage auf Feststellung eines Beschäftigungsverbots erheben müssen.
BVerfG: Fachgerichte könnten heute anders entscheiden
Die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes sei den Frauen auch nicht unzumutbar gewesen, meint das BVerfG. Denn dass die Gerichte beim Prüfen der Anspruchsvoraussetzungen des § 3 MuSchG an der bisherigen Auslegung des Begriffs "Entbindung" festgehalten hätten, sei nicht offensichtlich. Schließlich werde der Begriff durch den Gesetzgeber weder im Mutterschutzrecht noch in den zugehörigen sozialrechtlichen Bestimmungen konkretisiert. Außerdem habe der Gesetzgeber ausdrücklich klargestellt, dass er die Auslegung unter Bezugnahme auf das Personenstandsrecht aus medizinischer Sicht und nach Intention des MuSchG für nicht sachgerecht halte, als er 2017 ein Kündigungsverbot auch bei Fehlgeburten eingeführt hatte. Dass er sie bei den Schutzfristen aber trotzdem für überzeugend hält, erscheine dem BVerfG nicht plausibel.
Ein Festhalten an der bisherigen Auslegung sei daher mit Blick auf die unterschiedlichen Zielsetzungen der Personenstandsverordnung und der mutterschutzrechtlichen Fristenbestimmungen auch unter Berücksichtigung des Art. 6 Abs. 4 GG im Falle einer Fehlgeburt nicht zwingend. "Es ist mit Blick auf diese unterschiedlichen Zielsetzungen nicht ausgeschlossen, dass die Gerichte bei Auslegung der mutterschutzrechtlichen Bestimmungen unter Berücksichtigung der Interessenlage eine 'Entbindung' auch im Falle einer Fehlgeburt annehmen oder im Lichte des Art. 6 Abs. 4 GG für geboten erachten", so das BVerfG.
Außerdem habe das Bundesarbeitsgericht bei seiner Auslegung an die medizinische Erkenntnislage zur damaligen Zeit geknüpft. Würden die Fachgerichte den Begriff heute auslegen, seien neue medizinische Wertungen zu berücksichtigen. Solche Erkenntnisse seien vorrangig im fachgerichtlichen Verfahren zu gewinnen.
Die betroffenen Frauen hätten ihr Anrecht auf Mutterschutz mithin von den Arbeits- oder Sozialgerichten prüfen lassen müssen, so die Verfassungsrichter. Laut ihnen ist es auch nicht so unwahrscheinlich, dass die Gerichte Schutzfristen und Mutterschaftsgeld heutzutage auch bei Fehlgeburten gewähren würden.
lmb/LTO-Redaktion
Verfassungsbeschwerde gegen das Mutterschutzgesetz: . In: Legal Tribune Online, 25.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55502 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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