Wer Richter wird, hat im Vergleich zu Großkanzleianwälten wenig Geld, wenig Ehr und die Rechtsmittelinstanz als Fortbildungseinrichtung. Thomas Fischer über spektakuläre Vorzüge, warum es sich trotzdem lohnt, Richter zu werden.
Die Frage, warum ein Mensch Richter wird, ist so weit gefasst, dass sie keinesfalls allgemein beantwortet werden kann. Es gibt eine Vielzahl denkbarer allgemeiner und individueller Gründe, warum ein junger Mensch das Studium der Rechtswissenschaft zunächst beginnt und dann auch noch mit zwei Examen abschließt, also Volljurist wird. Die Frage aber, ob man Richter sein und werden möchte, stellt sich für die meisten Absolventen konkret erst nach diesem Zeitpunkt, obgleich es natürlich während des Studiums eine Fülle von Plänen, Erwägungen und Berufsvorstellungen gibt.
Anders als bei Studierenden, die – etwa aus familiären Gründen – Jura mit dem Ziel des Eintritts in eine konkrete Kanzlei oder ein Unternehmen studieren, bleibt die Berufsvorstellung bei möglichen Kandidaten für den Richterberuf meist eher vage. Das mag an der außerordentlich starken Ausrichtung des Studiums und auch des Vorbereitungsdienstes (Referendarzeit) auf die jeweilige Schlussprüfung, deren Punkteergebnis und die "Platzziffer" – also den Platz im Ranking des jeweiligen Prüfungstermins – liegen.
Bekanntlich (und bedauerlicherweise) führt dies zu einer Fixierung der Studenten schon vom Beginn des Studiums an auf tatsächlich oder angeblich Prüfungsrelevantes, damit zu einer Auslese derjenigen, die die an eher schematischen Lösungen Orientierten bevorzugen, und zur Vernachlässigung einer systematischen und wissenschaftlichen Einbettung des spezifischen Fachwissens in allgemeine und übergreifende Erkenntnisbildung (Geschichte, Soziologie, Psychologie, Wirtschaft, etc.).
Kaum Zweifel am eigenen Können
Nehmen wir an, die Grundvoraussetzung sei erbracht und die magische "Staatsnote" im Zweiten Examen erreicht (also der Notenschnitt, bis zu dem herab die Justiz noch einzustellen bereit ist). Dann stellen sich die auch zuvor schon ventilierten Fragen: Was ist das? Will ich das? Kann ich das?
An Letzterem haben – zum Teil erstaunlicherweise – die Wenigsten Zweifel. Das hängt damit zusammen, dass sie vom ersten Semester an (also bis zum Assessorexamen etwa acht Jahre lang) darin eingeübt werden, die Richter-Position "Wie ist die Rechtslage?", "Wie ist T zu bestrafen?" einzunehmen. Die wirklichen Fälle des Justizlebens unterscheiden sich von Examensklausurfällen also scheinbar nur durch etwas unübersichtlichere Sachverhalte.
Erbärmlich anmutendes Angebot
Eine (mich) immer wieder erstaunende hohe Zahl begabter Jurastudenten spricht ab dem dritten Fachsemester bevorzugt davon, welche "Großkanzlei" welche "Aufstiegschancen" und "Einstiegsgehälter" bietet und durch welche "Daten"-Gebirge beliebigen Inhalts man sich wie viele Stunden pro Woche wie viele Jahre lang fressen müsse, um im Paradies des Berufsglücks anzukommen, das vermutlich irgendwo oberhalb von 500.000 Euro p.a. nach Steuern beginnt. Das kann man so sehen. Diese Personen sind für den Richterberuf verloren.
Die Justiz hat solche Perspektiven nicht zu bieten. Im Gegenteil muten ihre Angebote im Vergleich geradezu erbärmlich an: Eine hierarchisierte Besoldungsstruktur in elf Schritten, von denen acht der großen Mehrzahl der Bediensteten auf immer verschlossen bleiben müssen – denn die sind nur von den Gerichtspräsidenten und an den Bundesgerichten erreichbar. Einstiegsgehälter an der Tränengrenze in einem Lebensabschnitt, in dem Kraft, Ambition und Geldbedarf besonders hoch sind. Völlig unabsehbare Aufstiegsaussichten. Unplanbarkeit lebensweltlicher Perspektiven bis ins Abituralter der Kinder: Angemessener Haus- oder Wohnungserwerb in Ballungsgebieten ohne Erbschaft oder Spielbankgewinn praktisch unmöglich, Alleinverdiener-Familien unerwünscht bzw. Einstieg ins Prekariat, usw.
Andererseits: Sicherheit lebenslang, Beihilfeanspruch (Krankenversicherung) auch für die Familie, daher erhebliche Ersparnisse bei der Krankenversicherung. Eine Öffentlicher Dienst-typische bürokratische, aber planbare Flexibilisierung des Tätigkeitsumfangs (Stichworte: Teilzeit, Altersteilzeit, Elternzeiten, Urlaub ohne Bezüge). Nicht zuletzt dies dürfte zur spektakulären Feminisierung der jüngeren Richtergenerationen geführt haben – die keine Errungenschaft des Feminismus ist, sondern eine Ausnutzung der Marktgegebenheiten.
Überprüfung der eigenen Ideen an den Gerichten
Eine solche Betrachtung kontrastiert zu den Bildern, welche auch formal vom Richterberuf existieren. Sie sind geprägt von weithin inhaltlichen Vorstellungen, die ohne Weiteres in Formale übersetzt werden: Soziale Herausgehobenheit, Macht, inhaltliche Selbstständigkeit. Dazu kommt eine Identifikation mit den allgemeinen Zielen des Rechtsstaats, die aus den langen Jahren der Ausbildung vertraut ist: Neutralität, Verwirklichung von parteienferner Gerechtigkeit.
Man muss bei der Überlegung stets berücksichtigen, dass die insoweit verfügbaren Bilder ganz überwiegend fiktiver Natur sind: Sie stammen aus Filmen, Presseberichten und damit aus den Definitionen einer Medienkultur, die durch vielerlei grobe Verzerrungen und auch schlichtes Unverständnis geprägt ist.
Man kann das (teilweise) kompensieren, indem man als Student und Referendar gelegentlich gerichtlichen Verhandlungen beim Amtsgericht und (!) Landgericht als Zuschauer beiwohnt: Mit kritischer, aber sympathisierender Distanz und einer hohen Bereitschaft, sich von den Spreizungen des konkreten Falls nicht beeindrucken zu lassen und auf die konkrete Rolle und Rollenausübung der Richter zu achten: Was und wie viel steckt hinter der durchweg demonstrierten Souveränität? Wie viel davon ist echt, wie viel gespielt, wie viel davon traut man sich selbst zu? Und: Will man das?
Schwur ist kein Kompetenznachweis
Das Richtersein in der Wirklichkeit ist jedenfalls überraschend. Die erste Überraschung für Einsteiger besteht darin, dass der Status der "Befähigung zum Richteramt" von der Justizverwaltung so verstanden wird, dass Proberichter, vor allem aber nach drei Jahren mit der Ernennung der "Richter auf Lebenszeit", alles (!) können müssen, und zwar von Anfang an und ohne jede weitere Unterstützung.
Für die Fortbildung sind ab Tag eins die Rechtsmittelgerichte zuständig. Den Rechtunterworfenen (Parteien) reicht der richterliche Schwur, ab sofort nach Gesetz und Recht zu urteilen, nicht stets als Kompetenznachweis aus. Mit dieser Enttäuschung und der Erfahrung, dass professionelle Interessenvertreter sowohl forensisch (in der Verhandlung) als auch schriftsätzlich nicht selten deutlich dickere fachspezifische Bretter zu bohren vermögen als man selbst als Generalist, muss man auch zu leben lernen. Die Wege, mit diesem Stress umzugehen, sind vielfältig und offenbaren dem Betroffenen selbst, aber auch den meisten anderen, gnadenlos die Stärken und Schwächen der Richterperson.
Ein gravierender, nicht zu unterschätzender Nachteil des Richterberufs sind die Diskrepanzen zwischen grundsätzlicher Freiheit, konkreter Abhängigkeit, theoretischer Verantwortung und praktischer Beschränkung. Die Unabhängigkeit ist, entgegen mancher Ansicht, ein durchaus hartes Brot, ein Ringen mit sich selbst, den eigenen Beschränkungen, den immanenten Kulturen, der Anforderung, auch gegenüber Personen – der Pflicht gehorchend – offen, empathisch und kollegial zu sein, die man vielleicht von Herzen ablehnt oder, im Extremfall, vielleicht sogar verachtet. Rechtsanwälte, die – jedenfalls im Grundsatz – insoweit unvergleichlich freier sind, können nach meiner Erfahrung die informelle Enge und die daraus entstehenden besonderen Belastungen und Herausforderungen gar nicht nachvollziehen und produzieren (daher) ihrerseits eine Vielzahl von projektiven Narrativen der Richterdeutung.
Unabhängigkeit! Zeit! Selbstverantwortung!
Die Vorzüge der Richterposition sind spektakulär: Unabhängigkeit! Zeit! Selbstverantwortung!
Richterliche Unabhängigkeit ist kein Privileg der Person, sondern eine Pflicht gegenüber dem Gemeinwesen und den Betroffenen. Wenn man das versteht, kann es Flügel verleihen und Verantwortungsgefühl vermitteln. Rechtsanwälte sind Vertreter von Interessen: Das ist der Job, das Recht, die Aufgabe und die Verantwortung. Richter haben es schwerer: Es reicht nicht die formale Behauptung, neutral zu sein, sondern erforderlich ist der Wille und die Fähigkeit, tatsächlich beide Seiten zu sehen, also den Konflikt in seiner ganzen Dimension zu erkennen. Dazu bedarf es Einfühlungsvermögen (Empathie) in alle Sichtweisen, eines hohen Maßes an Selbstreflexion (Wer bin ich? Was tue ich hier? Woher stammen meine intuitiven Annahmen?), verbunden mit knochentrockener Examensklausur-Kompetenz.
Wer die Situation kennt, weiß, dass es im Recht im konkreten Fall stets um Vertretbarkeit geht, und dass die Kriterien dafür sich nicht aus einer quantitativen Abzählung von Kommentar-Fundstellen oder der Juristen-typischen Darstellung von "herrschende Meinung" und "andere Ansicht" ergeben, sondern aus einer möglichst offenen Betrachtung der Sache. Die Verantwortung für diese Offenheit liegt stets und allein bei jeder einzelnen Richterperson, gleich welchen Ranges, welcher Funktion, welchen Einflusses. Jeder Rechtsanwalt kann (und muss) jederzeit den Schutzschild der anwaltlichen Aufgabe vor sich halten: Interessenvertretung. Eine Richterperson hat das nicht, sollte aber alle Interessen verstehen. Das ist außerordentlich reizvoll, birgt aber mancherlei Fallstricke.
Goldenes Justizkantinen-Thema: Beförderungen
Die Konkurrenz unter Richtern, namentlich innerhalb eines Spruchkörpers, ist vollkommen anders als die permanente Konkurrenz unter (freiberuflichen oder angestellten) Rechtsanwälten: Bei Letzteren geht es letzten Endes immer kurzfristig-vulgär ums Mandat, bei Ersteren schlimmstenfalls um oft unabsehbare Chancen der eigenen Bedeutung, deren materiell-pekuniäre Folgen sich in einem nach rationalen Kriterien unbedeutenden Bereich bewegen: Wer Wann Wo Was Wird (Goldenes Justizkantinen-Thema), ist immerwährendes Thema, aber in der Langzeit-Betrachtung ohne Bedeutung.
Wenn man als Richterperson Glück hat (was nicht die Regel, aber auch nicht selten ist und sich nicht "von allein" ergibt), sitzt man in einem Spruchkörper, in dem die sachgerechten Regeln der Fairness, Offenheit, Unabhängigkeit und Gleichberechtigung gelten. In dem Offenheit nach innen wie nach außen besteht. In dem die Zumutungen der Kleinkariert-Bornierten (auch sie gibt es, wie überall), der Justizverwaltung ertragen (und: ausgetragen) werden können.
Ergebnis:
1. Richter-Werden ist nicht einfach.
2. Richter-Sein ist nicht einfach.
3. Die Frage, ob man Richter werden soll, berührt den Kern der Persönlichkeit und verlangt eine möglichst ernsthafte Abwägung jenseits aktueller Trends und spekulativer Bilder.
4. Die äußeren und inneren Bedingungen des Richterberufs haben sich in den vergangenen 50 Jahren vielfach geändert. Auch dies ist Herausforderung und Chance.
5. Ich war seit Abschluss des Jurastudiums 24 Berufsjahre lang Richter, sechs Jahre lang Beamter, zwei Jahre lang Rechtsanwalt. Alle Funktionen und Rollen waren spannend, haben spezifische Großartigkeiten, aber auch mancherlei Enttäuschungen im Angebot. Es gibt nur sehr wenige Berufe, die ähnlich bedeutsam, wirkmächtig und verantwortungsvoll sind.
Prof. Dr. Thomas Fischer ist Rechtsanwalt in München und Rechtswissenschaftler. Er war von 2013 bis 2017 Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof. Fischer ist Autor eines Standard-Kommentars zum Strafgesetzbuch und schreibt für LTO die Kolumne "Eine Frage an Thomas Fischer".
Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 17.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51767 (abgerufen am: 20.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag