Praktikum in Unternehmen statt Gerichtssaal: Mehr Fin­ger­spit­zen­ge­fühl für Arbeits­richter

von Tanja Podolski

10.10.2024

Drei Monate können Arbeitsrichter in Baden-Württemberg in großen Unternehmen Praktika absolvieren. So sollen die Juristen bessere Einblicke in die Belange der Betriebsparteien bekommen. Das Projekt war schon einmal ausgelaufen.

Einigung beim Verband Unternehmer Baden-Württemberg (UBW) und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB): Die beiden Parteien, die oft unterschiedlicher Meinung sind, haben mit dem Land eine Vereinbarung unterzeichnet. Danach können Arbeitsrichter:innen in Baden-Württemberg ein dreimonatiges Betriebspraktikum in einem Unternehmen absolvieren. Ihnen soll so die Möglichkeit eröffnet werden, Einblicke in die Arbeitsweise größerer Unternehmen sowie die Tätigkeit der Betriebsräte zu erlangen, die oftmals als Parteien im arbeitsgerichtlichen Prozess vertreten sind, heißt es vom zuständigen Justizministerium.

Die Umsetzung kann ganz simpel sein: Insbesondere Richter:innen auf Probe, also solche mit noch wenigen Dienstjahren, können für drei Monate den Unternehmen zugewiesen werden, ähnlich einer Abordnung an Gerichte oder in Behörden, §§ 71 Deutsches Richtergesetz (DRiG), § 20 Abs. 3 Beamtenstatusgesetz. Das Justizministerium trägt die Personalkosten insbesondere wegen der Unabhängigkeit der Justiz in dieser Zeit weiter, gegenüber den eigenen Gerichten sind die Richter:innen freigestellt. Ungefähr je zur Hälfte der Zeit sollen die Jurist:innen in die Personalabteilungen und zu den Betriebsräten. Der Einsatz der Arbeitsrichter:innen in einem Unternehmen soll nach Mitteilung des Justizministeriums außerhalb des jeweiligen richterlichen Zuständigkeitsbereichs erfolgen. Damit sei grundsätzlich gewährleistet, dass eine richterliche Befassung mit Fällen, mit denen die Personen im Zuge des Betriebspraktikums in Kontakt kamen, ausgeschlossen ist. 

Gab es schon einmal 

Ganz neu ist die Idee nicht: Bereits 2006 wurde ein ähnliches Projekt umgesetzt. Damals war noch vorgesehen, dass die Richter:innen für sechs Monate in den Unternehmen sind. Dieser Zeitraum hatte sich aber als zu lang herausgestellt. "Wir hatten damals relativ viele Neueinstellungen bei den Arbeitsgerichten, so dass es auch ein entsprechend großes Interesse an den Praktikumsplätzen gab", erinnert sich Eberhard Natter, seinerzeit Präsident des Landesarbeitsgerichts (LAG) Baden-Württemberg und Mit-Ideengeber für das Betriebspraktikum. Das Justizministerium teilte mit, dass zu Beginn sogar nicht alle Bewerbungen berücksichtigt werden konnten. 

Seit etwa 2012 seien jedoch die Eingangszahlen beim Gericht und in der Folge auch die Einstellungen von Richtern zurückgegangen. Mit weniger Kammern bei den Gerichten sei dann auch die Neigung gesunken, sechs Monate auf Kolleg:innen zu verzichten, so Natter gegenüber LTO. "Die Arbeit musste nach dem damaligen Konzept für einen recht langen Zeitraum auf andere Richter:innen verteilt werden", erzählt der inzwischen ausgeschiedene LAG-Präsident. Bis 2020 haben nach Angaben des Ministeriums "trotz positiver Aufnahme insgesamt lediglich neun Arbeitsrichter:innen ein Praktikum absolviert".

Kürzere Dauer leichter zu tragen 

"Mit dem kürzeren Zeitraum von drei Monaten kann die Abwesenheit durch das Praktikum von den Richterkolleg:innen nun eher mitgetragen werden", sagt Dr. Betina Rieker, amtierende Präsidentin des LAG Baden-Württemberg, obwohl ein Ausfall einer Person insbesondere an kleineren Gerichten gleichwohl schwer aufzufangen sei. In der Arbeitsgerichtsbarkeit sind alle Proberichter:innen in der ersten Instanz tätig, es gebe "wenige Puffer, um Fehlzeiten auszugleichen", so Rieker. 

Derzeit sind in der baden-württembergischen Arbeitsgerichtsbarkeit 117 Richter:innen an neun Arbeitsgerichten und einem LAG tätig, 18 davon sind Proberichter:innen, einige davon wiederum u.a. durch Abordnungen aktuell nicht in der Arbeitsgerichtsbarkeit tätig . Die Proberichter:innen hat Rieker kontaktiert und das Interesse abgefragt: bisher haben sieben von ihnen bekundet, dass sie gerne ein Praktikum machen würden. "Das finale Ergebnis gebe ich dann an den Unternehmerverband. Dieser wird sich um geeignete Praktikumsplätze in passenden Unternehmen kümmern", so Rieker. Nötig sei, dass die Unternehmen eine gewisse Größe haben, um die Personalabteilung und Betriebsräte mit vielfältigen Aufgaben zu haben.

"Keine spezifische Vorbereitung" 

Natter ist von dem Konzept überzeugt: "Die Erfahrungen sind sehr hilfreich für das gegenseitige Verständnis", sagt der einstige LAG-Präsident. Natürlich erarbeite man sich die Erkenntnisse über die Jahre im Richteramt, doch für umfassende und frühe Erfahrungen und das richtige Fingerspitzengefühl sei Praktikum sehr dienlich.

Ähnlich sieht es Regierungsdirektor Thomas Oeben vom Justizministerium: "Grundsätzlich ist es auch bereits im Studium oder im juristischen Vorbereitungsdienst möglich, Praktika oder Stationen in Unternehmen zu absolvieren und ähnliche Einblicke zu gewinnen". Beides bereite allerdings nicht spezifisch auf die Tätigkeit als Arbeitsrichter:in vor, sondern auf die vielfältigen Berufsmöglichkeiten als Volljurist. Das Konzept stelle sicher, das alle teilnehmenden Arbeitsrichter:innen bereits über eine gewisse Berufserfahrung verfügen. "Dies steigert die Erkenntnismöglichkeiten, die das Praktikum bietet, nochmals enorm", so Oeben. Beim ersten Durchlauf waren die Arbeitsrichter:innen bei der Teilnahme am Betriebspraktikum durchschnittlich 3,8 Jahre am Arbeitsgericht tätig. Im Einzelnen schwankten die Zeiten zwischen zwei und sechs Jahren, so das Ministerium. 

Oeben kennt auch das Fazit derjenigen, die bereits ein Praktikum absolviert haben. Es klingt nach einer Win-Win-Erfahrung: "Die Kolleginnen und Kollegen berichteten beispielsweise davon, dass die selbst miterlebte Komplexität von Verhandlungssituationen manche Formulierungen in Betriebsvereinbarung in einem anderen Licht erschienen ließ. Auch sei ihnen durch das Betriebspraktikum bewusster geworden, wie sehr die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeberseite und Betriebsrat von in 'Jahrzehnten gewachsenen Gepflogenheiten geprägt sein' könne und wir stark auch externe Vorgaben, etwa von der Konzernzentrale, die Arbeit in den jeweiligen Unternehmen prägen und beeinflussen", so der Regierungsdirektor. 

Andere Länder, andere Praktiken

Baden-Württemberg ist nicht das einzige Bundesland, das Richter:innen derartige praktische Erfahrungen ermöglicht. So besteht für Richter:innen der nordrhein-westfälischen Arbeitsgerichtsbarkeit bereits "seit 1998 die Möglichkeit, eine unternehmenspraktische Zeit in einem Unternehmen zu verbringen", teilt Dr. Marcus Strunk, Ministerialrat im Justizministerium NRW auf LTO-Anfrage mit. "Grundlage hierfür sei eine Vereinbarung zwischen der Landesvereinigung der Unternehmensverbände des Landes Nordrhein-Westfalen e.V., der Deutschen Gewerkschaftsbund Rechtsschutz GmbH, Landesbezirk Nordrhein-Westfalen, und dem Ministerium der Justiz, die zuletzt im Jahre 2014 aktualisiert wurde. 

Die Dauer und die Bezeichnung sind indes in NRW anders als in Baden-Württemberg: "Bei der unternehmenspraktischen Zeit handelt es sich um ein Fortbildungsangebot für Arbeitsrichter:innen. Sie werden für ca. sechs Wochen einem Unternehmen zugewiesen, um dessen einzelne Betriebsteile (Produktion, Verwaltung etc.) kennen zu lernen. Sie erhalten ebenfalls Einblicke in die praktische Arbeit des Betriebsrates", so Strunk. Bei der Auswahl eines geeigneten Unternehmens würden die Arbeitsrichter:innen durch die Landesvereinigung der Unternehmensverbände des Landes Nordrhein-Westfalen e.V. unterstützt. Um Interessenkollisionen zu vermeiden, kämen regelmäßig nur Unternehmen in Betracht, die außerhalb des Gerichtsbezirks der jeweiligen Richterin bzw. des jeweiligen Richters liegen.  

Auch in NRW werde die unternehmenspraktische Zeit "allseits als wertvoll für die richterliche Tätigkeit empfunden", resümiert der Ministerialrat. Das bestätigten die Richter:innen in ihren Erfahrungsberichten und zudem das Interesse der Unternehmen und die Rückmeldungen der Verfahrensbeteiligten. 

Das Ministerium in Hamburg hingegen teilte mit, dass es eine Art Praktikum dort nicht gibt. Die Arbeitsrichter:innen verfügten "in aller Regel bereits über mindestens zwei Jahre Berufserfahrung als Volljurist, häufig als Rechtsanwalt oder aus Gewerkschaft oder Arbeitgeberverband", teilte die Behörde für Justiz und Verbraucherschutz (BJV) auf LTO-Anfrage mit. Dort würden die Proberichter:Innen am Arbeitsgericht zudem regelmäßig während ihrer dann noch zweijährigen Probezeit für ein Jahr an ein anderes Gericht (meist Sozialgericht) oder an die BJV abgeordnet.

Für Baden-Württemberg aber geht LAG-Präsidentin Rieker davon aus, dass die nächsten Praktikant:innen im Frühjahr 2025 starten werden.

Zitiervorschlag

Praktikum in Unternehmen statt Gerichtssaal: . In: Legal Tribune Online, 10.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55597 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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