Die Kommission der Ampelregierung hat einen Bericht zur weitgehenden Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs vorgelegt. Patrick Heinemann sieht darin gefährliche Relativierungen von Lebens- und Menschenwürdeschutz.
Die Diskussion um die rechtlichen Rahmenbedingungen des Schwangerschaftsabbruchs ist zurück. Anstoß für die deutsche Debatte gab auch der US Supreme Court, als er im Jahr 2022 seine aus den frühen 1970ern stammende Rechtsprechung zur grundsätzlichen Zulässigkeit des Abbruchs in den ersten Schwangerschaftswochen (Roe v. Wade) aufgab. Er erklärte ein sehr strenges Abtreibungsverbot des Staates Mississippi für verfassungskonform.
Zu Recht wird die Entscheidung überwiegend als Folge der rechtskonservativen Besetzung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten gedeutet. In den Hintergrund tritt dabei jedoch, dass die bis dahin geltenden US-Maßstäbe den Schwangerschaftsabbruch sehr viel großzügiger gestatteten als etwa das geltende deutsche Recht. Die Aufgabe des Rechts besteht nicht nur in der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit, sondern in der Schaffung von Rechtsfrieden durch Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte. Das Recht ist dafür auch auf ein Mindestmaß an Akzeptanz angewiesen. Hierfür sind extreme Lösungen – egal in welche Richtung sie gehen – in der Regel ungeeignet.
Grundrecht auf Abtreibung?
Auch in Europa ist Bewegung in die Gesetzgebung gekommen. In Deutschland verabschiedete im Jahr 2022 die Ampelkoalition die vollständige Aufhebung des bis dahin nach § 219a StGB strafbewehrten Verbots der Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft. Diesen Tatbestand hatte der deutsche Gesetzgeber bereits 2019 entschärft. Hintergrund war der Fall der Ärztin Kristina Hänel, die im Jahr 2017 nach der Vorschrift verurteilt worden war, was erste rechtspolitische Debatten zur Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs nach sich zog.
Vor allem in Reaktion auf die rechtspolitischen Entwicklungen in den USA entschloss sich wiederum das französische Parlament Anfang März 2024, ein Recht auf Abtreibung in der Verfassung der französischen Republik zumindest implizit anzuerkennen. Pünktlich zum 31. März stellte dann die auf ein Jahr von der Bundesregierung berufene "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" ihren Bericht vor. Deren erste von insgesamt zwei Arbeitsgruppen war mit Expertinnen der Medizin, der Rechtswissenschaft, der Sozialwissenschaft sowie der Medizinethik besetzt. Sie legte in dem Kommissionsbericht Konzepte einer künftigen Regulierung Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuchs vor.
Danach sollen die derzeitigen Regelungen im Strafgesetzbuch einer "verfassungsrechtlichen, völkerrechtlichen und europarechtlichen Prüfung" nicht Stand halten. Stattdessen müssten Schwangerschaftsabbrüche in den ersten zwölf Wochen grundsätzlich als rechtmäßig gelten, wobei es gleichwohl bei einer Beratungspflicht bleiben dürfe. In der Spätphase ab der 22. Woche müsse es bei der Strafbarkeit bleiben, was in der Zwischenphase geregelt werde, liege im Ermessen des Gesetzgebers. Bei Unzumutbarkeit der Schwangerschaft müsse eine Abtreibung jedenfalls auch zu einem späteren Zeitpunkt möglich sein.
Die Kirchen im Abseits
Theologische Expertise war in der gesamten Kommission nicht vertreten. Die Kirchen, die sich ehedem engagiert in Debatten der Sexualethik einbrachten, haben seit dem Zutagetreten zahlreicher Komplexe sexualisierten Machtmissbrauchs dermaßen an moralischem Kapital verspielt, dass sie in dieser öffentlichen Debatte abseits von ein paar extremen Lautsprechern kaum mehr wahrgenommen werden.
Nachdenkliche, differenzierte christliche Stimmen wie die des 2020 überraschend verstorbenen Moraltheologen und Mitglieds des ersten Nationalen Ethikrats Eberhard Schockenhoff (Universität Freiburg) sind in der deutschen Debatte kaum noch vertreten. Dabei gibt es sie durchaus: Mit Elisabeth Jünemann (Katholische Hochschule Paderborn), Marianne Heimbach-Steins (Universität Münster) oder etwa Ursula Nothelle-Wildfeuer (Universität Freiburg) kann das kirchliche Milieu durchaus Expertinnen aufbieten, die nicht durch extreme Positionen und moralischen Rigorismus auffallen. So allerdings verspricht der sich anbahnende Diskurs vor allem ein unangenehmes Polarisierungspotential zwischen rechtsextremen, selbsterklärten "Lebensschützern" und vermeintlich liberalen Stimmen, die etwa "Menschen ohne Uterus" jedes Recht absprechen wollen, sich in der Debatte auch nur zu Wort zu melden.
Aktuelle Rechtslage hat verfassungsrechtlichen Hintergrund
Umso drängender scheint es mir, sich der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen des Schwangerschaftsabbruchs zu vergewissern. Dabei ist die Ausgangsfrage des nun vorliegenden Kommissionsberichts, ob nur das Strafrecht befriedigende Antworten auf die Konfliktlagen geben kann (wie "Schwangerschaftsabbruch II" insbesondere nahelegt, BVerfGE 88, 203), die sich im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen stellen, durchaus berechtigt.
Allerdings besteht ein nicht unerheblicher Zusammenhang zwischen der jetzigen Fassung der §§ 218 ff. StGB und der Verfassungsrechtslage, wie sie das Bundesverfassungsgericht autoritativ in seinen entsprechenden Leitentscheidungen der Jahre 1975 und 1993 interpretierte. Denn Gegenstand dieser Entscheidungen waren jeweils Versionen dieser Vorschriften, die eine Rechtmäßigkeit des Abbruchs entweder pauschal innerhalb der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft (1975) oder aber in einer Kombination der Fristen- mit einer Beratungslösung (1993) vorgesehen hatten. In seiner jetzigen Fassung schreiben die §§ 218 ff. StGB gerade in Umsetzung dieser Rechtsprechung vor, dass der Schwangerschaftsabbruch zwar grundsätzlich rechtswidrig, aber innerhalb der ersten zwölf Wochen seit der Empfängnis straffrei ist, wenn sich die Schwangere bei einer anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle beraten lässt (§ 219 StGB) und hernach drei Tage Bedenkzeit bis zum Abbruch einhält.
Darüber hinaus sieht § 218a StGB Rechtfertigungsgründe für den Abbruch etwa bei psychosozialer Indikation (Abs. 3) sowie bei Schwangerschaften vor, die auf rechtswidrigen Taten nach den §§ 176 bis 178 StGB beruhen. Nur wenn ein solcher Fall festgestellt wird, übernehmen die Krankenversicherungen auch die Kosten des Abbruchs.*
Verfassungsrechtlicher Schutzzweck dieser Regelungen ist nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts, dass das Grundgesetz den Staat verpflichtet, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. Diese Schutzpflicht hat ihren Grund in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG. Gegenstand und Maß des Schutzes werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt. Menschenwürde kommt nach dem Bundesverfassungsgericht schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu. Das ungeborene menschliche Leben beginnt mit der Nidation, also dem Abschluss der Einnistung des befruchteten Eis in der Gebärmutter (BVerfGE 88, 203).
Kritik an den geltenden §§ 218 ff. StGB
Man kann durchaus offen die Frage stellen, ob das Modell der heute geltenden §§ 218 ff. StGB nicht vielleicht reif für eine Evaluierung ist. Kritiker:innen machen die Vorschriften insbesondere verantwortlich für ein unzureichendes ärztliches Angebot, den Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Auch dürften etwa die anspruchsvollen ethischen Erwartungen, die insbesondere den Vorschriften über die Schwangerenkonfliktbewältigung (§ 219 StGB) zugrunde liegen, in der Praxis nicht immer erfüllt werden.
Auf der anderen Seite lässt sich durchaus fragen, ob etwa die praktische Ausdehnung der psychosozialen Indikation des Schwangerschaftsabbruchs als Rechtfertigungsgrund nach § 218a Abs. 2 StGB befriedigend ist, erfasst sie doch weit mehr als existentielle Konfliktlagen und dabei insbesondere mittelbar auch embryopathische Indikationen, die einen rechtmäßigen (und nicht bloß straffreien) Schwangerschaftsbruch teils bis kurz vor der Geburt ermöglichen (siehe etwa S. 87 und 246 des Berichts). Ein als eugenische oder embryopathische Indikation bezeichneter Rechtfertigungsgrund ist im heutigen § 218a StGB zwar nicht enthalten. Allerdings ermöglicht die Vorschrift den Schwangerschaftsabbruch, wenn eine erhebliche künftige Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands der Mutter durch die Geburt eines behinderten Kindes zu einer psychosozialen Indikation im Sinne des § 218a Abs. 2 StGB führt. Im Ergebnis können so etwa durchaus lebensfähige, allerdings geistig behinderte Menschen nicht nur straffrei, sondern völlig legal abgetrieben werden. Kritiker sehen darin Ansätze von Eugenik, die unter dem Grundgesetz keinen Platz hat. Egal wie eine andere, künftige Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs aussehen könnte: Sie müsste sich stets am Grundgesetz messen.
Konflikt zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmung
Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt der Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs ist im Kern die Konfliktlage zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren (Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Lebensrecht des Nasciturus (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Eine einfachgesetzliche Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs muss die Möglichkeit eröffnen, diesen Konflikt verfassungskonform zu lösen, um – ganz im Sinne Konrad Hesses – eine praktische Konkordanz der konfligierenden Verfassungsrechtsgüter herzustellen. Praktische Konkordanz bedeutet, dass der Konflikt von Verfassungsgütern so zu lösen ist, das jedes von ihnen zu möglichst optimaler Geltung gelangt. Eine pauschale Hierarchie der Grundrechte kennt das Grundgesetz nicht. Religiöse Vorstellungen vom Wert des menschlichen Lebens, die als persönliche Handlungsmaxime durchaus ihre Berechtigung haben mögen, sind für den säkularen Verfassungsstaat nicht bindend. Radikale Lebensschützer müssen es daher aushalten, dass die Grenze des Zumutbaren – der katholische Verfassungsrichter, Sozialdemokrat und Staatsrechtslehrer Ernst-Wolfgang Böckenförde sprach hier stets von einer „Opfergrenze“ – nach dem Grundgesetz nicht notwendig deckungsgleich ist mit der des Katechismus.
Implizite Intention des Kommissionsberichts
Der nun vorliegende Kommissionsbericht, dessen hier maßgeblichen Passagen Frauke Brosius-Gersdorf (Universität Potsdam) verantwortet, scheint mir erkennbar von dem Bemühen getragen, für eine nicht näher definierte Frühphase der Schwangerschaft ein vorbehaltloses Recht auf den Schwangerschaftsabbruch verfassungsrechtlich herleiten zu wollen (siehe etwa S. 25 und 246 des Berichts). Um dieses vorbehaltlose Recht zu etablieren, argumentiert der Bericht zunächst damit, der grundrechtliche Schutz des menschlichen Lebens sei in der Phase von der Nidation der Eizelle in der Gebärmutter bis zur Geburt entweder überhaupt nicht oder nur geringer als nach der Geburt gewährleistet (S. 227 ff. des Berichts). Die dahinter liegende Intention ist klar: In der Folge hat der Nasciturus in der nachfolgenden Abwägung gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren zumindest in dieser Schwangerschaftsphase stets das Nachsehen, ohne dass es auf den Einzelfall ankommt. Demgegenüber soll der Abbruch in späteren Phasen der Schwangerschaft vor allem deswegen unzulässig sein, weil den Grundrechten der Schwangeren „mit Fortschreiten des Gestationsalters geringeres Gewicht“ zukomme (S. 261 des Berichts). Auch das spricht Bände: Der Lebensschutz des Nasciturus wird in erster Linie nicht ob seiner selbst verwirklicht, sondern als bloßer Reflex, weil die Schwangere das implizit vorausgesetzte Recht auf Abtreibung gewissermaßen durch Zeitablauf verwirkt hat.
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Abgestufter Schutz ungeborenen Lebens?
Ein derart abgestuftes Schutzmodell überzeugt mich nicht. Grundrechte gelten oder sie gelten nicht. Der Schutzbereich ist eröffnet – oder eben nicht. Es ist auch mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG sachlich nicht gerechtfertigt, den Gewährleistungsgehalt des Lebensschutzes nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG je nachdem, wer in der konkreten Konfliktlage Träger des Grundrechts ist (Nasciturus oder bereits geborener Mensch), a priori unterschiedlich zu bestimmen.
Der Bericht versucht dies unter anderem mit einem Rückschluss aus den unterschiedlichen Strafandrohungen des § 218 StGB (bei Tötung des Nasciturus) und der §§ 211 f. StGB (bei Tötung eines geborenen Menschen) zu begründen (S. 232 des Berichts). Das ist allerdings in zweierlei Hinsicht fehlschlüssig: Der Lebensschutz nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist kein Rahmenrecht (wie etwa Art. 14 Abs. 1 GG). Das einfache Recht gibt hier also nicht die verfassungsrechtlichen Maßstäbe vor, sondern muss ihnen Folge leisten. Es ist normenhierarchisch unlogisch, von Aussagen des einfachen Rechts auf den Inhalt von höherrangigem Verfassungsrecht zu schließen. Außerdem sind die §§ 218 ff. StGB ja eben von einer Konfliktlage zwischen Schutz des ungeborenen Lebens und Selbstbestimmung der Schwangeren gekennzeichnet, die bei §§ 211 f. StGB gerade nicht vorliegt. Das lässt nachvollziehen, warum der einfache Gesetzgeber für die insofern verschiedenen Sachverhalte unterschiedliche Strafandrohungen vorsieht.
Menschenwürdegehalt als Grenze
Die pauschale Unterordnung des ungeborenen Lebens in der Frühphase der Schwangerschaft („grundsätzlich Nachrang gegenüber den Grundrechten der Schwangeren“, siehe S. 246 des Berichts) gerät auch in Konflikt mit der grundrechtsdogmatischen Lehre vom Menschenwürdegehalt der Grundrechte, der auch für die Abwägung kollidierender Verfassungsrechtsgüter maßgeblich ist. Der Menschenwürdegehalt mag bei den Grundrechten unterschiedlich ausgeprägt sein, wird aber gemeinhin insbesondere bei den hier konfligierenden Grundrechten des Lebensschutzes (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) sowie dem Schutz der autonomen Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG als besonders ausgeprägt angesehen. Es kann daher nicht überraschen, dass der Kommissionsbericht schwere Schläge nicht nur gegen den Lebens-, sondern auch gegen den Würdeschutz des Nasciturus führt (S. 221 ff. des Berichts). So will er gute Gründe sehen für "eine Entkoppelung von Menschenwürde- und Lebensschutz und die Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG erst für den Menschen ab Geburt" (S. 221 des Berichts). Das ist harter Tobak. Das Leben stellt nach der Verfassungsjudikatur die "vitale Basis" der Menschenwürdegarantie dar (BVerfGE 39, 1 (41)). Dieser Zusammenhang ist keine Einbahnstraße. Denn umgekehrt kann es unter dem Grundgesetz auch kein menschliches Leben ohne Würde geben. Ansonsten wäre der Menschenwürdegehalt des Lebensschutzes nicht bloß angetastet, sondern beseitigt. Das gilt insbesondere für behindertes Leben, dessen Würde der Nationalsozialismus durch Tötungsaktionen auf extreme Weise negierte, die aber auch heute noch gelegentlich in Frage gestellt wird.
Menschenwürde soll antastbar sein?
Gewissermaßen hilfsweise für den Fall, dass man von einem Würdeschutz des Nasciturus auch in der Frühphase der Schwangerschaft ausgeht, stellt der Kommissionsbericht die Abwägungsresistenz der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG in Frage (S. 223 ff. des Berichts). Die Relativierung der Menschenwürde sucht er vor allem induktiv aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu informationellen Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht herzuleiten (z. B. aus den Entscheidungen zur Online-Durchsuchung und zum BKA-Gesetz).
Diese Judikatur versteht der Kommissionsbericht so, dass das Bundesverfassungsgericht darin eine Abwägbarkeit der Menschenwürde anerkenne, weil es Beeinträchtigungen des Kernbereichs der privaten Lebensgestaltung für praktisch unvermeidbar halte, da der Kernbereichsbezug teilweise überhaupt erst nach Datenerhebung und damit einhergehendem Eingriff beurteilt werden könne (siehe etwa BVerfGE 141, 220 (277 f.)). Ist das allerdings verallgemeinerungsfähig? Ob aus dieser doch sehr speziellen Rechtsprechung zu informationellen Eingriffen die Relativität der Menschenwürde ungeborenen Lebens bei Entscheidungen über dessen Leben oder Tod abgeleitet werden kann, halte ich für alles andere als zwingend. Vielmehr drängt sich mir umgekehrt die Frage auf, ob nicht jeder Versuch einer Relativierung der Menschenwürde – sei es auch durch das Bundesverfassungsgericht selbst – besser zurückgewiesen gehört. In verblüffender Ehrlichkeit bekennt dagegen der Kommissionsbericht (S. 244): „Keine oder jedenfalls keine ausschlaggebende Rolle bei der Abwägung kommt der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG zu.“
Kein vorbehaltloses Recht auf den Schwangerschaftsabbruch
Die verfassungsrechtlichen Annahmen der Kommission überzeugen mich daher nicht, und zwar völlig unabhängig davon, ob man mit der bisherigen Karlsruher Judikatur aus dem hoheitlichen Schutzauftrag für das menschliche Leben eine Kriminalisierungspflicht ableitet. Ein vorbehaltloses Recht auf den Schwangerschaftsabbruch, das – sei es auch nur in der Frühphase der Schwangerschaft – auf jede Konfliktbewältigung im Einzelfall verzichtet, sondern stets einseitig zulasten des Nasciturus geht, dürfte mit dem Grundgesetz kaum zu machen sein.
Das veranschaulicht auch ein einfaches Beispiel: Sollen die grundrechtlichen Belange der Schwangeren in der Frühphase der Schwangerschaft selbst dann überwiegen und den Schwangerschaftsabbruch gestatten, wenn sie sich vor der Nidation bewusst dafür entschieden hat, schwanger werden zu wollen, sie also nicht bloß versehentlich oder gar gegen ihren Willen schwanger geworden ist? Kann das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren hier wirklich überwiegen?
Das überzeugt mich nicht. Das Bundesverfassungsgericht geht in seiner früheren Rechtsprechung zum Schwangerschaftsabbruch sogar soweit, dass der Lebensschutz der Leibesfrucht für die gesamte Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren genießt und daher insbesondere nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden darf (BVerfGE 39, 1). Geht man davon aus, dass eine vorbehaltlose Entscheidung für die Zulässigkeit des Abbruchs in der Frühphase der Schwangerschaft, wie sie die Kommission vorschlägt, den Menschenwürdegehalt des Lebensschutzes tangiert, könnte sie der verfassungsändernde Gesetzgeber wegen der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3 GG) wohl auch nicht als Grundrechtsanspruch im Grundgesetz verankern.
Kommission wird Erwartungen nicht gerecht
Der Herausforderung, die gesellschaftlichen Mehrheitserwartungen an eine Deregulierung des Schwangerschaftsabbruchs sowie das Bemühen um eine hinreichende medizinische Versorgung in Einklang mit dem Grundgesetz zu bringen, wird der Kommissionsbericht nicht gerecht.
Viel spricht dafür, dass die Arbeit der Kommission, diese anspruchsvolle Aufgabe zu bewältigen, von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Man braucht sich gar nicht darüber aufzuregen, dass die Arbeitsgruppe 1 nur mit Frauen besetzt war. Denn Diversität und Pluralität verbürgte sie ohnehin nicht. So fehlen im Literaturverzeichnis – wie schon bei der Besetzung des Gremiums – nicht nur wichtige gesellschaftliche Stimmen der nach wie vor nicht völlig irrelevanten Kirchen.** Einschlägige philosophische Literatur wie etwa die des einflussreichen australischen Ethikers Peter Singer, der sich aus einer utilitaristischen Position heraus für eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs einsetzt, sucht man vergeblich. Auch mit konservativen Positionen – etwa des kirchlichen Milieus – setzt sich der Kommissionsbericht noch nicht mal kritisch auseinander. Er ignoriert sie völlig. Ich habe deshalb meine Zweifel, dass die Kommission wirklich so ergebnisoffen war, wie es Gesundheitsminister Lauterbach (SPD) vor einem guten Jahr bei ihrer Einsetzung verkündet hatte. Der Bericht leistet leider selbst einen Beitrag zu etwas, was er gleich zu Beginn kritisiert: eine gesellschaftliche Kontroverse, die erbittert und unversöhnlich geführt wird.
* Passage angepasst am 29.04.2024, 14:35 Uhr. Es wurde der unzutreffende Eindruck erweckt, die Krankenkasse zahle nach entsprechender Beratung und Bedenkzeit den Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis.
** Dieser Satz wurde am 29.04.2024, 13:10 Uhr, und nochmals am 30.04.2024, 12:57 Uhr, angepasst. Es wurde der unzutreffende Eindruck erweckt, das Literaturverzeichnis (zur Verfassungsrechtslage) sei nur zwei Seiten lang.
Recht auf Schwangerschaftsabbruch?: . In: Legal Tribune Online, 28.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54440 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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