Das BVerfG hat die einrichtungsbezogene Impfpflicht für verfassungsgemäß erklärt. Der Beschluss ist zwar nachvollziehbar und plausibel begründet, doch wäre mehr Differenzierung wünschenswert, meint LTO-Chefredakteur Felix W. Zimmermann.
In kaum einer Institution in Deutschland herrscht mehr Furcht vor dem Coronavirus als auf den Fluren des Bundesverfassungsgerichts. Im vergangenen Jahr wurde auf mündliche Verhandlungen weitestgehend verzichtet, selbst beim spektakulären Klimaverfahren. Ende des Jahres wurden dann für eine Verhandlung eine große Halle angemietet und Vorsichtsmaßnahmen verhängt, die "alles bislang Dagewesene übertreffen". Diese Vorsicht hatte ihren Preis, nämlich eine spürbare Distanz von Öffentlichkeit, Medien und stellenweise auch Gerichten zum höchsten deutschen Gericht. Diese war weder seinem Ansehen förderlich, noch kann sie als Vorbild für den transparenten Rechtsstaat verstanden werden.
Angesichts der großen Corona-Sorgen in Karlsruhe verwundert es nicht, dass das Gericht in seiner Corona-Rechtsprechung ebenfalls die Gefahren des Virus groß-, die negativen Folgen von Beschränkungen der Freiheitsrechte jedoch kleinschrieb. Der diese Woche von zehn deutschen Bürgerrechtsorganisationen herausgegebene Grundrechtereport 2022 schilt die Corona-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bundesnotbremse als "unpräzise", "knapp" und "gefährlich". Ulf Buermeyer, Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), kritisiert, das Gericht stelle den Gesetzgeber "mit einer dünnen, an einigen Stellen rechtsdogmatisch schwer nachvollziehbaren Argumentation weitgehend von verfassungsrechtlicher Kontrolle frei".
Der Impfverweigerer als unvernünftiges Wesen
Derart oder vergleichbare herbe Kritik hat der Beschluss des BVerfG zur Bestätigung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht hingegen nicht verdient. Er ist nachvollziehbar begründet und im Ergebnis schlüssig. Auch unter Omikron-Bedingungen betont die Mehrheit der Wissenschaftler, dass Ungeimpfte ansteckender seien als Geimpfte und damit vulnerable Gruppen eher gefährden. Zwar ist das Ausmaß der Senkung des Ansteckungsrisikos durch Impfung nicht wissenschaftlich bestimmbar und damit die Geeignetheit recht zweifelhaft. Doch kann die Annahme "Impfen hilft vor Drittansteckung" angesichts der Einschätzungsprägorative des Gesetzgebers kaum beanstandet werden. Die Abwägung zugunsten vulnerabler Gruppen, deren Gefährdung bei einer COVID-19-Erkrankung um ein Vielfaches über den Gefahren des Impfens liegt, überzeugt im Grundsatz ebenfalls.
Doch auch in diesem Beschluss zeigt sich stellenweise wieder, dass das BVerfG Grundrechtseingriffe aufgrund von Corona-Maßnahmen unterbelichtet. So betrachtet das Gericht etwa Impfverweigerer nicht gerade mehrdimensional. Es betont – gönnerhaft anmutend –, dass das Selbstbestimmungsrecht auch umfasst, "unvernünftige Entscheidungen" zu treffen. Nach Vorstellungen der Richterinnen und Richter sind also Impfverweigerer eine Gruppierung der Unvernünftigen.
Dies ist unter anderem angesichts so manch obskurer Argumentation der Beschwerdeführer ein teilweise sicherlich zutreffender Befund. Doch gerade für jüngere Menschen bestehen auch berechtigte Zweifel an der Vernünftigkeit des Impfens unter Omikron-Bedingungen, weil erstens das Virus weniger gefährlich geworden ist, zweitens sich auch Geimpfte massenhaft anstecken (etwaig mit leichterem Verlauf) und drittens die dauerhafte Notwendigkeit von zeitnahen Auffrischungsimpfungen besteht ("Dauer-Impfpflicht-Abo", Zitat aus Beschwerdeschrift).
Kein Bedarf an Differenzierungen
Zwar überzeugt die Argumentation des Gerichts, dass sich gerade Pflegekräfte und Ärzt:innen ihrer besonderen Verantwortung gegenüber vulnerablen Gruppen bewusst sein müssen. Doch die sonst oft beim BVerfG zu beobachtende Lust an der Differenzierung – etwa bei Entscheidungen im Bereich Sicherheitsgesetze – hat das Gericht bei Corona-Maßnahmen noch nie versprüht und auch diesmal nicht in Ansatz gebracht. So halten es die Richter:innen für unerheblich, dass selbst bei Verwaltungsangestellten und Küchenpersonal, das kaum Kontakt mit Kranken und Pflegebedürften hat, eine Impfpflicht besteht. Es bestünde die Gefahr der mittelbaren Ansteckung von vulnerablen Gruppen durch Ansteckung von Arzt- und Pflegepersonal und schließlich wiege hier auch der Eingriff nicht so schwer, da etwa bei Küchenpersonal im Gegensatz zu Ärzten ein Arbeitsplatzwechsel weg von der Gesundheitsbranche möglich sei.
Schließlich geht das BVerfG in der Verhältnismäßigkeit nicht vertiefend auf die Problematik der Intensivierung und Zumutbarkeit wiederholter Grundrechtseingriffe ein, die durch die Notwendigkeit von zeitnahen Auffrischungsimpfungen entstehen.
Implizite Aussagen zur allgemeinen Impfpflicht
Mit der Bestätigung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht hat das BVerfG die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer allgemeinen Impfpflicht nicht indiziert. Im Gegenteil machen die Richterinnen und Richter an mehreren Punkten deutlich, dass es diese kritischer wertet. So betont das Gericht etwa im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, dass der Gesetzgeber mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht gerade die vulnerablen Gruppen schützen will. Weiter verweist es darauf, dass das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG fortbestehe, da die Impfung noch abgelehnt werden könne, wenn auch nur um den Preis der Berufstätigkeit.
Ob das Verfassungsgericht im Ergebnis ebenfalls durchgreifende Bedenken gegen eine allgemeine Impfpflicht hätte, dürfte angesichts der bisherigen Rechtssprechungslinie unwahrscheinlich sein. Doch die Frage steht ohnehin aktuell nicht auf der Agenda. Schließlich hat der Bundestag die allgemeine Impfpflicht vor Kurzem abgelehnt – auch aus verfassungsrechtlichen Gründen.
BVerfG zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht: . In: Legal Tribune Online, 20.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48508 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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