Auftakt für Wirecard-Prozess in München: Herr Braun weiß von nichts

von Stefan Schmidbauer

08.12.2022

In der Münchener JVA Stadelheim beginnt der Prozess gegen drei ehemalige Manager von Wirecard. Geklärt werden soll unter anderem, ob dem Ex-CEO Markus Braun die Rolle des Täters oder des Opfers zukommt.

Am 25. Juni 2020 wurde klar: Der große Bluff ist nicht mehr zu retten. Wirecard, spätestens mit der Aufnahme in den DAX als deutsche Visitenkarte im globalen Technologiesektor vorgesehen, musste Insolvenz anmelden. Nachdem sich für die Existenz eines Guthabens von rund 1,9 Milliarden Euro, das nach Unternehmensangaben auf philippinischen Treuhandkonten verbucht sein sollte, kein Nachweis fand, hatte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY dem Unternehmen wenige Tage zuvor das Testat für die Jahresbilanz 2019 verweigert. Wirecard räumte schließlich notgedrungen ein, dass das Bankguthaben mit "überwiegender Wahrscheinlichkeit" nicht bestehe. Game over.

Der zarte Hauch von Silicon Valley, der in Aschheim, wo der Zahlungsdienstleister seinen Hauptsitz hatte, in der Luft lag, musste dem Odeur von Ernüchterung und Ungläubigkeit weichen. Bis zuletzt fiel es Mitarbeitenden, Geschäftspartnern, Anlegern und sogar den Aufsichtsbehörden schwer zu glauben, dass die Bilanzen von Wirecard nicht halten konnten, was Fassade und Unternehmenskommunikation jahrelang versprochen hatten. Aufstieg und Fall des Unternehmens versorgten Film- und Theaterschaffende mit Inspiration und deutsche Strafverfolgungsbehörden mit dicken Akten.

Gericht soll Rollenverteilung klären

Einen Teil der hinterlassenen juristischen Scherben soll jetzt die 4. Große Strafkammer des Landgerichts München I unter dem Vorsitz von Richter Markus Födisch in den kommenden Monaten zusammenkehren und dabei insbesondere klären, welche Rollen den Angeklagten im Wirecard-Drama zugefallen sind und in welchem Umfang sie für die von der Staatsanwaltschaft München I in der 474 Seiten umfassenden Anklageschrift erhobenen Vorwürfe Verantwortung tragen. Mit einer schnellen Wahrheitsfindung wird nicht gerechnet. Das Gericht, dem neben Födisch zwei weitere Berufsrichter sowie zwei Schöffen angehören, hat – vorerst - 100 Sitzungstermine bis Ende des kommenden Jahres festgelegt (Az. 4 KLs 402Js 108194/22).

Verhandelt wird in einem Hochsicherheitsgerichtssaal der Münchener Justizvollzugsanstalt Stadelheim. Dem 17 Millionen Euro teuren Bau ist große mediale Aufmerksamkeit nicht fremd: Nach der Einweihung stand er zunächst selbst im Blickpunkt, später fand hier unter anderem der NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe statt.

Staatsanwaltschaft stützt sich auf einen Kronzeugen

Zum Auftakt der Wirecard-Verhandlung haben sich am Donnerstagmorgen neben dem ehemaligen CEO Markus Braun auch der frühere Chefbuchhalter Stephan von Erffa und Oliver Bellenhaus, ehemaliger Geschäftsführer einer Wirecard-Tochter in Dubai, als Protagonisten auf der Anklagebank eingefunden. Bellenhaus, der ebenso wie Braun in Stadelheim in Untersuchungshaft sitzt und eine entsprechend kurze Anreise hatte, kooperierte im Vorfeld mit der Staatsanwaltschaft. Im Verfahren tritt er als Kronzeuge auf, wesentliche Teile der Anklage stützen sich auf seine Aussagen.

Staatsanwalt Matthias Bühring trägt die Anklageschrift im Wechsel mit zwei Kollegen vor. Verlesen wird nur der knapp 90 Seiten umfassende allgemeine Teil, rund 5 Stunden sind dafür eingeplant. Die wesentlichen Anklagepunkte lauten Marktmanipulation, Untreue, gewerbsmäßiger Bandenbetrug sowie unrichtige Darstellung von Jahresabschlüssen.

Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft wurden margenintensive Online-Zahlungstransaktionen, insbesondere aus den Bereichen Glücksspiel und Pornographie zunächst in ausländischen Tochtergesellschaften angesiedelt, um sie einer effektiven Kontrolle innerhalb des Konzerns zu entziehen.

Fiktive Geschäftsvorgänge dienen der Legendenbildung

Das sogenannte Third-Party-Acquiring-Geschäft (TPA) sei dann genutzt worden, um real nicht existente Geschäftsvorgänge zu verbuchen und Abrechnungen und Saldenbestätigungen auf der Basis fiktiver Einnahmen zu erstellen. Dass diese unrichtigen Angaben zu Umsätzen und Erträgen im TPA-Geschäft Eingang in die Bilanzen finden würden, die wiederum im Zusammenspiel mit Geschäftsprognosen die Grundlage für Anlageentscheidungen von Investoren bilden, hätten die Angeklagten bewusst in Kauf genommen.

Gemeinsam habe das Trio dem Unternehmen mit ausgeklügelten Strukturen Kapital entzogen. Die kreative Buchführung diente nach Ansicht der Staatsanwaltschaft dazu, in der Außendarstellung den Eindruck einer höheren Profitabilität des Unternehmens zu erwecken. Den Angeklagten sei klar gewesen, dass eine Darstellung der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage des Unternehmens einen Einbruch des Aktienkurses und somit auch negative Folgen für die an Geschäfts- und Kursentwicklung gekoppelte variable Vorstandsvergütung zur Folge gehabt hätte.

Braun setzt auf bekannten Strafverteidiger

Im Anschluss an den Vortrag der Staatsanwaltschaft gehört das Wort Rechtsanwalt Alfred Dierlamm. Dierlamm, Gründer der gleichnamigen Kanzlei und seit 2010 Professor für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht an der Universität Trier, ließ bislang keine Abneigung gegen Herausforderungen erkennen: Mandate zu Cum-Ex, der Schlecker-Insolvenz und dem VW-Abgasskandal finden sich unter seinen Referenzen.

In Stadelheim tritt er an, um Markus Braun weitere Jahre im Gefängnis zu ersparen. Sein Mandant beteuerte in der Vergangenheit mehrfach seine Unschuld. Braun, zum Prozessauftakt in seinem typischen Outfit – dunkler Anzug und Rollkragenpullover - , sieht sich als Opfer krimineller Machenschaften, von denen er selbst nichts gewusst und mitbekommen habe.

Die Verteidiger der beiden anderen Angeklagten, darunter Florian Eder, der Oliver Bellenhaus vertritt, üben sich am ersten Prozesstag noch weitestgehend in verbaler Zurückhaltung. Bis zum Jahresende sind noch fünf weitere Verhandlungstage terminiert, Zeugen sollen erst im neuen Jahr vernommen werden. Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé oder auch der Journalist Dan McCrum, der mit seiner Artikelreihe "House of Wirecard" aus dem Geschäftsmodell Wirecard den Fall Wirecard machte und dabei selbst Adressat von Ermittlungen wurde, dürften Spannendes zu erzählen haben.

Wo ist Jan Marsalek?   

Schon am ersten Verhandlungstag deutete sich Potenzial für Wendungen und Überraschungen an. Deutlich wurde aber auch, dass ein – möglicherweise entscheidendes – Puzzlestück fehlt: Jan Marsalek. Das ehemalige Wirecard-Vorstandsmitglied, dessen Konterfei bundesweit großflächig auf Fahndungsplakaten prangt, ist untergetaucht. Moskau wird als Aufenthaltsort des Österreichers vermutet.

Genug Geldmittel dürften bei ihm vorhanden sein. Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung soll er mit Hilfe seiner Assistentin insgesamt Millionenbeträge in bar in Plastiktüten aus der Konzernzentrale geschafft haben. 

Unbestätigten Berichten zufolge hat sich die Staatsanwaltschaft München I zwischenzeitlich mit einem Inhaftnahmeersuchen an Russland gewandt. Die Personalie Marsalek wird den Prozess in Stadelheim begleiten und könnte jederzeit zum X-Faktor werden.

 

* Korrigierte Fassung vom 21.12.2022, 13:45 Uhr. Zuvor bezog sich der Vorwurf des Herausschaffens von Geld in Plastiksäcken sprachlich auf alle Angeklagten. Hierzu liegen der Redaktion indes keine Erkenntnisse vor. 

Zitiervorschlag

Auftakt für Wirecard-Prozess in München: . In: Legal Tribune Online, 08.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50413 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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