Viele Unternehmen werben mit klimaneutralen Produkten. Sie kompensieren die eigenen Emissionen über CO2-Zertifikate. Marc-Philippe Weller und Theresa Hößl analysieren, wie die Unternehmen haften, wenn diese Zertifikate geschönt sind.
Erst kürzlich machte die ZEIT erhebliche Missstände im System des freiwilligen Handels mit CO2-Zertifikaten publik. 94 Prozent der von einem der weltweit führenden Zertifizierer im freiwilligen Emissionshandel ausgegebenen Zertifikate könnten wertlos sein. Doch nur über den Ankauf solcher CO2-Zertifikate sind die meisten Unternehmen überhaupt erst in der Lage, ihre Klimaziele oder (vermeintliche) Klimaneutralität zu erreichen.
Klimaneutralität durch Reduktion oder Kompensation
Bis spätestens 2045 muss die inländische Wirtschaft klimaneutral sein (§ 3 Abs. 2 Klimaschutzgesetz). Dabei erlaubt die aktuelle Klimaschutzregulierung den Unternehmen, eine Klimatransformation ihres Geschäftsmodells auf zwei Wegen zu erreichen. Eine Möglichkeit ist die Reduktion eigener CO2-Emissionen, etwa durch Umstellung auf emissionsärmere Produktionsprozesse oder durch Substitution von fossiler durch grüne Energie.
Die andere Möglichkeit ist die Kompensation, indem freiwillig CO2-Zertifikate erworben werden. Sie beruht auf der Logik, dass CO2-Emissionen, die an anderer Stelle bei normalem Geschäftsverlauf an sich in die Atmosphäre gelangt wären, gegen eine Zahlung bzw. die Finanzierung einer Gegenmaßnahme doch nicht freigesetzt werden. Konkret geht es meist um Waldbestände, deren Abholzung planmäßig anstünde, die nun aber aufgrund des CO2-Zertifikates in ihrem Bestand bewahrt werden. Diese Abstandnahme von der eigentlich erfolgenden CO2-Emission verbürgen die CO2-Zertifikate.
Der Erwerb von CO2-Zertifikaten führt dazu, dass der eigene CO2-Ausstoß klimabilanziell neutralisiert wird. Zwar gibt es bislang erstaunlicherweise keine gesetzliche Regelung, welche den Begriff "Klimaneutralität" näher definiert. Allerdings haben sich als internationaler Marktstandard die CO2-Bilanzierungsregeln des Greenhouse Gas Protocols etabliert. Diese geben unter anderem vor, wie der CO2-Fußabdruck von Produkten oder Kompensationsmaßnahmen klimabilanziell zu berechnen ist.
Freiwilliger und verpflichtender CO2-Zertifikatehandel
Bei CO2-Zertifikaten ist der verpflichtende vom freiwilligen Handel zu unterscheiden:
Im Anwendungsbereich der seit 2004 geltenden EU-Emissionshandels-Richtlinie, welche die Bundesrepublik mit dem Treibhausgasemissionshandelsgesetz (TEHG) innerstaatlich umgesetzt hat, müssen gewisse, in der Europäischen Union (EU) ansässige Unternehmen als Erlaubnis und Kompensation für bestimmte, in Anhang 1 der Emissionshandelsrichtlinie aufgeführte Tätigkeiten CO2-Zertifikate erwerben.
Das System hat derzeit mehrere Schwächen: Nach §§ 1, 4 TEHG erfasst werden derzeit nur besonders emissionsintensive Tätigkeiten umfasst, etwa die Herstellung von Energie, Eisen und Stahl. Ferner gilt das Emissionshandelssystem (noch) nicht für alle Wirtschaftssektoren, insbesondere fehlen der Verkehrs- und der Bausektor.
Unternehmen können ihre CO2-Bilanz aber auch durch den freiwilligen Erwerb von CO2-Zertifikaten verbessern. Zum Beispiel werben Gucci, Netflix und Zalando mit der Klimaneutralität ihres Geschäftsmodells; diese Klimaneutralität wird durch freiwillige Kompensation erreicht.
CO2-Washing
Stellen sich die erworbenen Zertifikate indes als geschönt oder gar praktisch wertlos heraus, weil das eingesparte CO2-Volumen zu großzügig berechnet wurde oder im Fall von Waldschutzprojekten der Wald auch ohne Zertifikat nicht abgeholzt worden wäre, gehen die Klimarechnungen der Unternehmen nicht mehr auf; die Werbung mit Klimaneutralität erweist sich dann als unzutreffend.
CO2-Washing kommt aber nicht nur bei der Kompensation durch (wertlose) CO2-Zertifikate in Betracht, sondern auch in anderen Fällen der Werbung mit Klimafreundlichkeit – insbesondere im Finanzsektor.
Das schadet vor allem der Reputation des Unternehmens. So stürzten die Aktien der Fondsanbieterin DWS und ihrer Mutter, der Deutschen Bank, zeitweise ab, als Ermittlungen wegen Kapitalanlagebetrugs im Zusammenhang mit dem Vorwurf geschönter Nachhaltigkeitsangaben zu "grünen" Fonds bekannt wurden. Abgesehen von solchen Reputationsverlusten stellt sich die Frage, ob Unternehmen bei CO2-Washing auch Schadensersatzansprüchen von Anlegern oder Vertragspartnern ausgesetzt sein können.
Falschangaben in nichtfinanzieller Unternehmensberichterstattung
Große Kapitalgesellschaften müssen nach §§ 289c Abs. 2 Nr. 1, 315c Abs. 1 HGB in ihrem (Konzern-)Lagebericht in einer sog. nichtfinanziellen Erklärung ausführliche Angaben zu Umweltbelangen wie etwa Treibhausgasemissionen machen.
Mangels Schutzgesetzeigenschaft im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB sind diesbezügliche Falschangaben aber nicht schadensersatzbewehrt (BGH, Urt. v. 13.04.1994, Az. II ZR 16/93). Sie können jedoch eine Pflichtverletzung im Sinne des § 93 Abs. 2 AktG darstellen, die der Entlastung der Geschäftsleitung entgegensteht (§ 120 AktG) und eine Schadensersatzhaftung des Vorstands begründen kann – vorausgesetzt, die Gesellschaft erleidet einen bezifferbaren Vermögensschaden wie etwa die Belastung mit Kosten einer internen Aufklärung (LG München, Urt. v. 10.12.2013, Az. 5 HK O 1387/10).
Falschangaben als börsenkursrelevante Informationen
Erfährt die Geschäftsleitung eines Wertpapieremittenten aus nicht-öffentlichen Quellen, dass erworbene CO2-Zertifikate wertlos sind und die propagierte Klimaneutralität insofern unzutreffend ist, kann dies – je nachdem, wie intensiv die Klimaneutralität am Kapitalmarkt beworben wurde – eine börsenkursrelevante Information darstellen.
Das CO2-Washing wäre dann nach Art. 17 MAR ad hoc zu veröffentlichen; andernfalls drohen Schadensersatzansprüche der Anleger wegen Unterlassens nach § 97 Wertpapierhandelsgesetz (WpHG).
Werden Finanzprodukte wie Wertpapiere, Investmentvermögen oder Vermögensanlagen im zugehörigen Verkaufsprospekt unzutreffend als klimaneutral beworben, drohen dem Emittenten zudem Prospekthaftungsansprüche nach § 9 Wertpapierprospektgesetz (WpPG), § 20 Vermögensanlagengesetz (VermAnlG) oder § 306 Kapitalanlagegesetzbuch (KAGB).
Dabei kann insbesondere die (zu) selektive Darstellung von Informationen zur Fehlerhaftigkeit eines Prospekts führen. Bei bestimmten Wertangaben, etwa der Reduzierung von CO2-Emissionen um einen bestimmten Prozentwert, kann es erforderlich sein, die Bewertungsmethode zu erläutern. Bei CO2-Zertifikaten aus Waldschutzprojekten empfiehlt es sich, auf deren unsichere Klimabilanzierungsmethode hinzuweisen.
Aufklärung der Verbraucher über Kompensation
Wirbt ein Marktteilnehmer mit der Klimaneutralität seines Produkts, wird der Durchschnittsverbraucher typischerweise nicht davon ausgehen, dass die beworbene Klimaneutralität ohne eigene Reduktionsbemühungen allein auf dem Erwerb von CO2-Zertifikaten beruht; aus Verbrauchersicht steht der Zertifikatehandel vielmehr häufig im Verdacht des Greenwashings. Daher ist eine Aufklärung dahingehend erforderlich, ob die beworbene Klimaneutralität ganz oder teilweise durch Kompensationsmaßnahmen erreicht wird.
Das Vorenthalten dieser Information kann eine unlautere geschäftliche Handlung im Sinne von § 5a Abs. 2 Nr. 1 UWG darstellen, die über §§ 9, 3 UWG Schadensersatzansprüche gegenüber Mitbewerbern und neuerdings auch Verbrauchern auslösen kann. Dies gilt umso mehr, wenn verwendete Zertifikate tatsächlich geschönt oder wertlos sind.
Kaufgewährleistung
Auch der kaufrechtliche Sachmangelbegriff des § 434 BGB ist angesichts seiner Weite grundsätzlich offen für die Berücksichtigung von Klimaeigenschaften eines Produkts.
"Grüne" Produktwerbung betrifft häufig eine Umweltbeziehung der Kaufsache; sofern sie unzutreffend ist und die tatsächliche von der beworbenen Beschaffenheit der Kaufsache abweicht, stehen dem Käufer Gewährleistungsrechte zur Verfügung (§ 437 BGB), namentlich der Rücktritt vom Kaufvertrag.
Legalitätspflicht des Vorstands
Adressat all dieser Außenhaftungsansprüche ist das sich als "klimaneutral" gerierende, tatsächlich aber CO2-emittierende Unternehmen als juristische Person.
Im Innenverhältnis trifft allerdings auch die Geschäftsleitung eine persönliche Verantwortung, die vorgenannten gesetzlichen Vorschriften in puncto Klimaneutralität einzuhalten und im Verletzungsfall schnell Abhilfe zu schaffen, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG. Konkret muss der Vorstand wertlose CO2-Zertifikate unverzüglich aus der Klimabilanz herausnehmen und die Werbung mit "Klimaneutralität" stoppen oder aber durch "werthaltige" CO2-Zertifikate ersetzen. Andernfalls drohen Schadensersatzansprüche, § 93 Abs. 2 AktG.
Im Fall eines handfesten "Klimabetruges" und bei entsprechend feststellbarem Vorsatz einzelner Vorstandsmitglieder droht diesen außerdem neben einer deliktischen Außenhaftung nach § 826 BGB auch eine strafrechtliche Verantwortlichkeit: (Kapitalanlage-)Betrug nach §§ 263, 264a StGB, strafbare irreführende Werbung nach § 16 StGB oder unrichtige Darstellung von Unternehmensverhältnisses nach § 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB, § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG.
Sowohl in Form der Außen- als auch der Innenhaftung stellt CO2-Washing also ein ernsthaftes Haftungsrisiko für Unternehmen wie Geschäftsleiter dar.
Bald klimabezogene Vorstandspflichten
Während derzeit (nur) die Legalitätspflicht als Vehikel für umweltbezogene Vorstandspflichten fungiert, bereitet die Europäische Kommission gerade die Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDD-Entwurf) vor. Zwar wurde die spezifische Pflicht zur nachhaltigen Geschäftsführung in Art. 25 CSDD im Entwurf des Europäischen Rates gestrichen. Dennoch sollen Unternehmen zur "Klimatransformation" verpflichtet werden. So ist das unternehmerische Geschäftsmodell nach Art. 15 CSDD-Entwurf an das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens anzupassen und bis 2050 klimaneutral zu gestalten.
Diese an das Unternehmen gerichtete Klimazielvorgabe strahlt auf den Unternehmenszweck und damit auch auf die Vorstandspflichten aus. Ist der Vorstand bislang in der Regel nicht dazu verpflichtet, Klimabelange in seine unternehmerischen Entscheidungen einzubeziehen, wird sich das mit der CSDD künftig ändern. Es zeichnet sich die Herausbildung einer auch klimabezogenen Sorgfaltspflicht der Geschäftsleitung gegenüber dem Unternehmen ab. Die Geschäftsleiter werden künftig also regelmäßig CO2-Reduktions- und Kompensationsmaßnahmen zu prüfen und umzusetzen haben. CO2-Washing ist dabei nicht erlaubt.
Die Autorin Theresa Hößl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht.
Der Autor Prof. Dr. Marc-Philippe Weller ist Direktor am Institut für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg.
Die Verf. danken Dr. Sophia Schwemmer, Dr. Markus Lieberknecht und Wiss. Ass. Victor Habrich für wertvolle Hinweise.
Unzutreffende Werbung mit "Klimaneutralität": . In: Legal Tribune Online, 16.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51328 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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