EU-Kommission legt eine Gesetzesinitiative vor: Führt der "EU Chips Act" aus der Hal­b­lei­ter­krise?

Gastbeitrag von Dr. Michael Biendl

28.02.2022

Die EU-Kommission will mit einer Gesetzesinitiative Versorgungsengpässen bei Chips entgegenwirken und ein florierendes und resilientes Halbleiter-Ökosystem schaffen. Doch damit ist Europa laut Michael Biendl nicht allein.  

eMobility, Smartphones, Rechenzentren, kritische Infrastrukturen, das Internet der Dinge –Halbleiterchips stellen die Schlüsseltechnologie für den digitalen Wandel dar. Die starke Abhängigkeit verschiedenster Industrien von der Halbleiterbranche blitzte jüngst durch weltweite Lieferengpässe auf, die beispielsweise die Automobilbranche in einigen EU-Staaten dazu zwang, die Produktion zumindest temporär auf das Niveau von 1975 zurückzufahren.  

Der "EU Chips Act" soll kurzfristig zur Überwindung dieser Engpässe beitragen. Mittel- bis langfristig sollen das Europäische Halbleiter-Ökosystem gestärkt, seine Widerstandsfähigkeit erhöht und externe Abhängigkeiten verringert werden. Hierzu hat die Europäische Kommission das Ziel ausgerufen, den europäischen Marktanteil von derzeit circa 10 Prozent bis zum Jahr 2030 auf 20 Prozent zu erhöhen. Angesichts der bis 2030 prognostizierten Verdoppelung des globalen Halbleitermarktes entspricht dies einer Vervierfachung der derzeitigen Produktionskapazitäten, innerhalb von acht Jahren – ein ambitioniertes Unterfangen.  

Erreicht werden soll dies durch eine ausdifferenzierte Förderung von Innovationen in der EU und die Mobilisierung von Investitionen in neuartige Produktionskapazitäten. Insgesamt schätzt die Kommission das Gesamtvolumen an öffentlichen Investitionen und angeschobener Eigenkapitalunterstützung durch den "EU Chips Act" auf über 43 Milliarden Euro.

Dies entspricht in etwa der Summe, die der Vorschlag für ein US-amerikanisches Chip-Gesetz an Unterstützungsmaßnahmen bis zum Jahr 2026 vorsieht. China soll in den letzten zehn Jahren rund 150 Milliarden US-Dollar in ihre Halbleiterindustrie investiert haben. Die von Südkorea bereitgestellten steuerlichen Anreize sollen bis 2030 sogar rund 450 Milliarden US-Dollar betragen. Rein zahlenmäßig betrachtet scheint die Europäische Union im globalen Wettlauf um den Halbleitersektor damit keine Führungsrolle einzunehmen.

Umso stärker ins Gewicht fällt die konkrete Ausgestaltung der regulatorischen Rahmenbedingungen in dem vorgeschlagenen "EU Chips Act". Das gesamte Maßnahmenpaket besteht aus einer Empfehlung der Europäischen Kommission, dem eigentlichen Vorschlag für eine Verordnung zur Schaffung eines Rahmens von Maßnahmen zur Stärkung des europäischen Halbleiter-Ökosystems (zugehörige Anlagen) sowie einem Verordnungsvorschlag zur Änderung der Verordnung (EU) 2021/2085.

Die Empfehlung der Kommission zur kurzfristigen Behebung von Lieferengpässen

Die rechtlich unverbindliche Empfehlung soll bis zum Wirksamwerden der Verordnungen als Sofortinstrument dienen, um einen Informationsaustausch über versorgungskritische Marktentwicklungen und eine rasche, koordinierte Reaktion auf die aktuellen Lieferengpässe zu ermöglichen.  

Ob dies gelingt, dürfte maßgeblich von der Kooperationsbereitschaft auf Unternehmerseite abhängen: Aktuell ist die Kommission darum bemüht, hinreichend Transparenz über die gegenwärtigen Herausforderungen zu schaffen und fordert die Mitgliedstaaten auf, Informationen von Unternehmensverbänden, Halbleiter- und Geräteherstellern zu ihren Produktionsvermögen, Produktionskapazitäten und den derzeitigen Hauptstörungen und Engpässen einzuholen. Da es sich hierbei überwiegend um Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse handeln dürfte und die Empfehlung qua natura keinen Auskunftsanspruch vorsehen kann, bleibt abzuwarten, ob die gewünschten Informationen tatsächlich zeitnah zur Verfügung stehen werden.

Des Weiteren empfiehlt die Kommission den Mitgliedstaaten, mögliche Krisenreaktionsmaßnahmen zu prüfen und schlägt konkrete Maßnahmen vor. Diese reichen von der Aufnahme eines Dialoges mit den Herstellern und einer (ebenfalls unverbindlichen) Aufforderung an die Hersteller, der Produktion krisenrelevanter Produkte für kritische Sektoren Vorrang einzuräumen, über eine Mandatierung der Kommission als zentrale Beschaffungsstelle, bis hin zur Initiierung von Ausfuhrbeschränkungen.

Langfristiger Überwachungs- und Kriseninterventionsmechanismus

Verbindlicher soll es mit Inkrafttreten des "EU Chips Act" werden: Dessen Verordnungsentwurf sieht in seiner dritten Säule einen koordinierten Mechanismus zur Überwachung der Versorgungslage und Krisenintervention im Falle von Störungen der Halbleiterwertschöpfungskette vor.  

Der Überwachungsmechanismus fußt primär auf Auskunftsansprüchen der Mitgliedstaaten gegenüber Unternehmen und Auskunftspflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der Europäischen Kommission. Für die Kommission sieht der Verordnungsentwurf im Falle des Vorliegens schwerwiegender Störungen der Halbleiterversorgung ebenfalls Auskunftsbefugnisse sowie die Möglichkeit vor, geförderte Produktionsstätten zu verpflichten, Aufträge zur Produktion krisenrelevanter Produkte anzunehmen und vorrangig zu behandeln.  

Förderung der Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit über die Initiative "Chips für Europa"

Zurück zur eigentlichen Förderung des europäischen Halbleitersektors: Unter der Initiative "Chips für Europa" (erste Säule) beabsichtigt die Kommission, die Forschung und Entwicklung moderner Halbleiterchips zu stärken.

Hierzu soll eine virtuelle Entwurfsplattform aufgebaut werden, die unter offenen, diskriminierungsfreien und transparenten Bedingungen zugänglich sein soll. Ziel ist es, eine umfassende Zusammenarbeit von Nutzergemeinschaften und Entwicklungsstandorten, Urhebern und Werkzeuganbietern, Entwicklern und Technologieorganisationen anzuregen. Zudem sollen Pilotanlagen auf- und ausgebaut werden, innerhalb derer Produktgestaltungen getestet und weiterentwickelt werden können. Durch ein Netz von Kompetenzzentren in ganz Europa soll der Zugang zu der Entwurfsinfrastruktur und den Pilotanlagen erleichtert und Fachwissen zur Verfügung gestellt werden.

Flankiert werden diese Maßnahmen durch die Einrichtung eines "Chips-Fonds", um den Zugang zu Fremd- und Beteiligungsfinanzierungen zu erleichtern.

Zum Zwecke der Kombination von Finanzmitteln aus den Mitgliedstaaten, EU-Haushaltsmitteln und privaten Investitionen soll zusätzlich die Möglichkeit der Gründung eines Konsortiums ("European Chips Infrastructure Consortium") mit eigener Rechtspersönlichkeit eröffnet werden. Ein solches Konsortium muss aus mindestens drei Rechtsträgern aus wiederum mindestens drei Mitgliedstaaten bestehen und unter Beteiligung der Mitgliedstaaten und privater Rechtsträger arbeiten.  

Nationale Förderung von Anlagen außerhalb der beihilfenrechtlichen Vorgaben

Innerhalb der zweiten Säule des "EU Chips Act", die primär auf den Ausbau von Produktionskapazitäten abzielt, soll daneben den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet werden, bestimmte Fertigungsanlagen außerhalb der unionsrechtlichen Beihilfenkontrolle zu fördern. Dies gilt konkret für zwei Arten von Produktionsstätten, sogenannte integrierte Produktionsstätten und offene EU-Fertigungsbetriebe.

Voraussetzung für die Anerkennung als privilegierte Produktionsstätte ist, dass es sich um eine neuartige Anlage handelt, die in der Union noch nicht vorhanden ist oder deren Bau noch nicht geplant ist. Zudem muss mittels der Produktionsstätte in die nächste Chip-Generation, die in Sachen Rechenleistung, Energieeffizienz oder sonstiger Energie- und Umweltvorteile über den aktuellen Stand der Technik hinausgeht, investiert werden.

Ergänzend sieht der Verordnungsentwurf Regelungen zur Beschleunigung der nationalen Genehmigungsverfahren vor. Auch hier liegt ein besonderes Augenmerk auf den zwei genannten, privilegierten Anlagekategorien. Für jede dieser Fertigungsstätten muss eine Spezialzuständigkeiten einer Behörde geschaffen werden, um Verwaltungsanträge in Bezug auf Planung, Bau und Betrieb zu erleichtern und zu koordinieren.

Fördern und Fordern – die zwei Kehrseiten des "EU Chips Act"

Ein erster Blick in das Maßnahmenpaket zeigt, dass der "EU Chips Act" nicht nur Geschenke an die Chip-Branche beinhalten soll: Die Förderung des Ausbaus moderner Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionskapazitäten geht Hand in Hand mit der Implementierung eines unionsweiten Überwachungs- und Kriseninterventionsmechanismus, innerhalb dessen geförderte Anlagen besonders in die Pflicht genommen werden können.  

Als Kehrseite der "Fördermedaille" sollen geförderte Anlagen einen Beitrag zum gesamtwirtschaftlichen Interesse der Sicherstellung der Versorgungssicherheit leisten. Beide Aspekte werden Gegenstand künftiger Investitionsentscheidungen sein.

Dr. Michael Biendl ist Rechtsanwalt und Wirtschaftsinformatiker und berät als Senior Associate bei CMS Hasche Sigle nationale und internationale Mandanten in europäischen Regulierungsthemen, mit einem starken Fokus auf Netzinfrastrukturen und produktbezogene Vorgaben.

Zitiervorschlag

EU-Kommission legt eine Gesetzesinitiative vor: . In: Legal Tribune Online, 28.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47630 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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