Die Frage eines Richters am VG Wiesbaden lässt sich so zusammenfassen: Arbeite ich eigentlich an einem unabhängigen Gericht? Denn: Er glaubt das nämlich nicht. Der EuGH könnte wieder die Chance erhalten, Aussagen zur deutschen Justiz zu treffen.
Hat es am Thema gelegen? Der Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichts (VG) Wiesbaden an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit dem Aktenzeichen 6 K 1016/15 beschäftigt sich in erster Linie mit dem Petitionsausschuss und der Datenschutzgrundverordnung. Vielleicht wurde deshalb kaum über die Entscheidung des Einzelrichters der 6. Kammer vom 28. März 2019 berichtet.
Dabei hat sie es in sich. Denn die zweite Vorlagefrage lautet: "Handelt es sich bei dem vorlegenden Gericht um ein unabhängiges und unparteiisches Gericht"? Man könnte die Frage des Richters so zusammenfassen: Arbeite ich eigentlich an einem unabhängigen Gericht in Deutschland? Gemeint ist das VG Wiesbaden, betroffen wären bei einer zukünftigen Entscheidung des EuGH aber alle deutschen Gerichte.
Den Aufhänger für die Vorlagefrage liefert dem Wiesbadener Einzelrichter die Formulierung "Gericht" in Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), denn nur ein "Gericht" kann dem EuGH vorlegen. Für die Frage, ob es sich bei einer nationalen Einrichtung um ein "Gericht" handelt, komme es nach der Rechtsprechung des EuGH maßgeblich auf die Unabhängigkeit an, so die Vorlage. Die bestünde zum einen aus der Autonomie und der hierarchischen Unabhängigkeit der Einrichtung und andererseits aus der Unparteilichkeit.
VG-Beschluss: "Gefahr der politischen Einflussnahme"
Die "nationale Verfassungslage", so der Beschluss, gewährleiste "nur die funktionale richterliche Unabhängigkeit, nicht aber eine institutionelle Unabhängigkeit der Gerichte". Immerhin würden die Richter von den Justizministern der Länder ernannt und von ihnen auch befördert. Auch die Beurteilung der Richter regele das Ministerium und auf die Richter fände Beamtenrecht Anwendung.
Die Vorlage folgert auch, dass zwar die Richter selbst unabhängig seien und nur dem Gesetz unterworfen. Eine solche rein "funktionelle" Unabhängigkeit reiche aber nicht aus, "um ein Gericht vor jeder äußeren Einflussnahme zu bewahren". Dabei gehe es nicht nur um Weisungen, sondern auch um mittelbare Einflüsse, die eine Entscheidung der Richter steuern könnten. Letztlich entscheide immer das Justizministerium über die Planstellen und die Anzahl der Richter an einem Gericht sowie über dessen Ausstattung.
"Bereits die bloße Gefahr einer politischen Einflussnahme auf die Gerichte (durch Ausstattung, Personalzuweisung usw. durch das Justizministerium) kann eine Gefahr des Einflusses auf die Entscheidungen der Gerichte um deren unabhängige Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinträchtigen bewirken", heißt es in der Vorlage. Sie warnt vor einem "vorauseilenden Gehorsam" durch vermeintlichen Erledigungsdruck, der etwa über "eine vom Ministerium betriebene Belastungsstatistik Pebbsy" ausgeübt werde.
Abschließend kommt die Vorlage zu dem Ergebnis: "Nach alledem dürfte das vorlegende Gericht die europarechtlichen Vorgaben nach Art. 47 Abs. 2 GrCH eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts nicht in diesem Sinne erfüllen."
Richtervereinigung: "Eine mutige Entscheidung"
Die Argumentation, die sich über 25 Randnummern des Beschlusses hinweg erstreckt und mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH angereichert ist, erinnert an eine Art Best-Of des justizpolitischen Plädoyers für unabhängigere Gerichte und Staatsanwaltschaften. Das EuGH-Vorlageverfahren ist quasi wie geschaffen dafür, dem justizpolitischen Thema Aufmerksamkeit zu sichern. Die Vorlage geht ohne Dienstweg, ohne Zwischenschritte direkt per Post an den EuGH.
Seit vielen Jahren ist die Selbstverwaltung der Justiz den deutschen Richterverbänden ein Anliegen. Der größte deutsche Zusammenschluss von Richtern und Staatsanwälten, der Deutsche Richterbund, geht auf Anfrage von LTO allerdings von einem Einzelfall aus, und möchte das Verfahren nicht weiter kommentieren.
"Eine mutige Entscheidung", sagt aber Carsten Löbbert, Sprecher des Bundesvorstandes der Neuen Richtervereinigung, "die sich sehr gut mit der grundsätzlichen Verfasstheit der Justiz in Deutschland auseinandersetzt." Nur: Warum kommt so eine Vorlage dann erst jetzt?
"Es braucht den richtigen Fall und auch den Richter oder die Richterin mit dem Hang zum Grundsätzlichen, jemanden, der auch mal quer denkt", so der Familienrichter* Löbbert. Und wie geht es nun weiter? Wie stehen die Chancen, dass der EuGH sich tatsächlich zur Unabhängigkeit der deutschen Gerichte äußern wird?
Löbbert ist optimistisch: "Der EuGH wird sicher eine Entscheidung des Generalanwalts einholen und sich hoffentlich auch mit der Frage nach Unabhängigkeit der deutschen Gerichte beschäftigen."
Willkommene oder unangenehme Gelegenheit für den EuGH?
Für den EuGH bietet sich mit der Vorlage innerhalb kurzer Zeit erneut die Gelegenheit, sich zum deutschen Justizsystem zu äußern. Vor nicht einmal zwei Wochen hat der EuGH-Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona erst sein Interesse für die deutsche Justiz und ihre Unabhängigkeit bekundet. Er schrieb in seinen Schlussanträgen, dass er auf eine "geeignete Gelegenheit gewartet" und die sich nun ergeben habe, um allgemeine Aussagen zur Legitimation der Staatsanwaltschaften in den Mitgliedsstaaten zu treffen. Und er hält in seinen Schlussanträgen die deutsche Staatsanwaltschaft für nicht unabhängig genug, um im Alleingang einen europäischen Haftbefehl auszustellen.
In dem Verfahren geht es freilich mit dem EU-Haftbefehl um ein originär europäisches Instrument. Dem EuGH dürfte es leichter fallen, dazu generelle Aussagen zu treffen, die auch die Justiz in den Mitgliedstaaten berühren. Die Vorlage aus Wiesbaden spielt dem EuGH dagegen die Unabhängigkeitsfrage der deutschen Gerichte in Reinform zu.
Dass das Gericht der ersten Instanz dem EuGH überhaupt aus eigener Initiative vorlegt, ist übrigens eher ungewöhnlich. Eine Recherche in der Entscheidungsdatenbank liefert keinen weiteren Vorlagefall des VG Wiesbaden – eine Recherche per Suchmaschine ergibt eine einzige Vorlageentscheidung zur Agrarbeihilfe im Jahr 2009.
Die Vorlage zur Unabhängigkeit des Gerichts wurde am 1. April beim EuGH eingereicht, sie trägt nun das Aktenzeichen C-272/19. Als nächstes schickt der EuGH das Vorabentscheidungsersuchen an die Verfahrensbeteiligten, sie haben dann gut zwei Monate Zeit, um eine schriftliche Stellungnahme einzureichen. Das Land Hessen kann dann seine Auffassung zur Unabhängigkeit seiner Gerichte darlegen.
*Anm. d. Red.: Zunächst hieß es hier "Verwaltungsrichter", das trifft nicht zu, geändert am 09.05.2019, 17.56 Uhr.
Vorlage aus Wiesbaden an den EuGH: . In: Legal Tribune Online, 09.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35285 (abgerufen am: 20.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag