Das Wahlplakat mit dem Slogan "Migration tötet" der NPD ist aus Sicht des VG Gießen nicht volksverhetzend, sondern stelle die Realität teilweise dar. Aber zum Glück griffe ja notfalls das Widerstandsrecht. Der Richter ist kein Unbekannter.
Das Verwaltungsgericht (VG) Gießen kommt in einer aktuellen Entscheidung zu dem Ergebnis, dass eine Stadt den hessischen Landesverband der NPD nicht dazu auffordern durfte, im Europawahlkampf ein Wahlplakat zu entfernen (Urt. v. 09.08.2019, Az. 4 K 2279/19.GI). Dieses erfülle nämlich nicht den Tatbestand der Volksverhetzung, da es sich bei der Einwanderung von Flüchtlingen tatsächlich um eine "Invasion" gehandelt habe. Der objektive Aussagegehalt von "Migration tötet" sei eine empirisch zu beweisende Tatsache.
Das Plakat weise auch nicht unzulässig darauf hin, dass wenn der deutsche Staat sein Gewaltmonopol nicht festige, chaotische Verhältnisse zu befürchten seien. Aber "sollten der deutsche Staat oder seine Behörden einmal in die Handlungsunfähigkeit abrutschen, griffe das Recht zum Widerstand aus Art. 20 Abs. 4 GG ohnehin".
Der Richter, der das Urteil allein verfasst hat, ist am VG Gießen auch zuständig für Asylsachen. Nach Angaben einer Sprecherin handelt sich um denselben Richter, der im vergangenen Jahr, ebenfalls im Rahmen eines Urteils, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Asylrecht massiv angegriffen hatte. Dabei hatte er u.a. angeregt, dass das BVerfG doch lieber einmal hätte prüfen sollen, ob Terroristen sich überhaupt auf die deutsche Rechtsordnung und die Europäische Menschenrechtskonvention berufen könnten.
"Stoppt die Invasion: Migration tötet"
Das umstrittene Plakat gestaltete sich wie folgt: Auf schwarz-rotem Grund fanden sich im Vordergrund die Worte "Stoppt die Invasion: Migration tötet" sowie unter dem Logo der NPD "Widerstand jetzt". Im Hintergrund stehen die Namen von Städten, in denen es - angeblich oder tatsächlich - zu Gewalthandlungen durch Migranten gekommen sein soll, getrennt jeweils durch ein Kreuz.
Diese Wahlplakate wollte die Stadt im Europwahlkampf nicht dulden und forderte die NPD auf, sie binnen zwei Tagen zu entfernen, ohne der Partei die Möglichkeit zur Anhörung zu geben. Sie stützte sich dabei auf ein Urteil des VG Dresden, das NPD-Wahlplakate bereits als volksverhetzend im Sinne von § 130 Strafgesetzbuch (StGB) eingestuft hatte. Die NPD erhob Fortsetzungsfeststellungsklage und landete damit bei der 4. Kammer des VG Gießen.
Das Urteil fällte der Berichterstatter der Kammer allein. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Beseitigungsanordnung der Stadt rechtswidrig gewesen sei, gab der Klage der NPD also statt und ließ wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache die Berufung zum Verwaltungsgerichtshof Hessen zu. Die hat die beklagte Stadt auch bereits eingelegt, das Verfahren ist dort anhängig (Az. 8 A 2162/19).
Der Richter stuft die Beseitigungsverfügung der Stadt schon als formell rechtswidrig ein, weil es an der nötigen Anhörung der NPD gefehlt habe und dieser formelle Fehler nicht heilbar sei. Sie sei darüber hinaus aber auch materiell rechtswidrig, meint der für das Urteil allein verantwortliche Berichterstatter, auf den das Verfahren nach dem Willen beider Parteien übertragen worden war. Er meint, dass das Plakat den Tatbestand der Volksverhetzung nicht erfülle. Dann darf eine Stadt auch einer nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwar verfassungsfeindlichen, aber nicht verbotenen Kleinstpartei wie der NPD nicht untersagen, es im Wahlkampf zu nutzen.
"Invasion" beschreibt, was 2015 geschah
Der Richter weist auf diverse Urteile hin, die die Wahlwerbung der NPD im Europawahlkampf 2019 für zulässig erachtet hätten. Es fällt auf, dass er die bei Juristen übliche "andere Ansicht" nicht angibt. Es finden sich keine Fundstellen zu Entscheidungen von Gerichten (und auch Kammern derselben Gerichte, wie zum Beispiel Senate des OVG Sachsen zu den Az. 3 B 155/19, 6 L 385/19), die das anders beurteilt haben. Die von ihm zitierten Urteile sind auch, anders als suggeriert, keineswegs alle zu dem Ergebnis gekommen, dass die NPD-Wahlwerbung nicht volksverhetzend sei. So hat beispielsweise der zitierte 3. Senat des OVG Sachsen über diese Frage gar nicht entschieden, sondern die Verbotsverfügung einer Stadt wegen formaler Fehler aufgehoben (OVG Sachsen, Beschl. v. 21.05.2019, 3 B 151/19).
In der Sache prüft das VG Gießen die Gesamtaufmachung des Wahlplakats sowie die darin verwendete Wortwahl und den Zusammenhang mit der damals bevorstehenden Europawahl im Mai 2019. § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB (Volksverhetzung) stellt u. a. unter Strafe, wenn in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angegriffen wird, dass eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe oder Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet wird.
Mit "Widerstand jetzt" könne aber auch ein nicht rechtsgutverletzender oder parlamentarischer Widerstand gemeint sein, steigt der Richter in die Gründe ein. Dem Begriff der Invasion schreibt er zwar auch die Bedeutung "angreifen, überfallen" zu, sieht ihn aber nicht als Wertung an: "In diesem Sinne kommt dem Begriff Invasion keine volksverhetzende Bedeutung zu, sondern er beschreibt hier im übertragenen Sinne lediglich den Zustand des Eindringens von außen in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, wie es insbesondere im Jahr 2015 objektiv feststellbar war. In diesem Jahr wurden die deutschen Grenzen durch die Wanderungsbewegung im Sinne eines Eindringens in das deutsche Staatsgebiet überrollt und es kam zu einem unkontrollierten Zuzug von Ausländern, aus welchen Gründen auch immer […]. Die Geschehnisse im Jahr 2015 sind durchaus mit dem landläufigen Begriff der Invasion vergleichbar und beinhalten keine Wertung und damit keinen volksverhetzenden Charakter".
"Migration tötet" stellt die Realität teilweise dar
Den Slogan "Migration tötet" hält der Richter für nicht volksverhetzend, sondern für "die Realität teilweise darstellend", an anderer Stelle heißt es, der Aussagegehalt sei "eine empirisch zu beweisende Tatsache".
Aus ausführlichst erzählten "historischen Wanderungsbewegungen" leitet er ab, dass "Migration tatsächlich in der Lage ist, Tod und Verderben mit sich zu bringen". Zudem müsse "töten" schließlich nicht den Tod von Menschen meinen, sondern könne auch das Aus von Kulturen bedeuten, und Einwanderung stelle "naturgemäß" eine Gefahr dar, "eine bestehende Gefahr für die deutsche Kultur und Rechtsordnung sowie menschliches Leben ist nicht von der Hand zu weisen". Als Beleg führt das Urteil Zahlen sehr unterschiedlicher Quellen an, die eine gestiegene Kriminalität von Migranten bei bestimmten Deliktsarten beweisen sollen. Dabei zeigten, so das Urteil sodann, auch die vielen ertrunkenen Flüchtlinge bei der Überfahrt auf dem Mittelmehr "eine andere Todesgefahr der Migration, nämlich diejenige auf dem Land- oder Seeweg nach Europa/Deutschland".
Auch die freiheitliche demokratische Grundordnung könne, so das Urteil, durch Migrationsbewegungen größeren Ausmaßes nicht nur beeinträchtigt, sondern sogar beseitigt und damit getötet werden. "Exemplarisch sei hier an die Silvesternacht 2015 erinnert". Es folgen Zahlen zu den Ereignissen insbesondere am Kölner Hauptbahnhof sowie zu salafistisch motivierten Straftaten, Ehren- und Blutrache-Morden.
Die DUH, staatliche Unterdrückung und das Recht zum Widerstand
"Hier eine reale Gefahr zu negieren hieße, die Augen vor der Realität zu verschließen", geht es weiter. "Sollten der deutsche Staat oder seine Behörden einmal in die Handlungsunfähigkeit abrutschen, griffe das Recht zum Widerstand aus Art. 20 Abs. 4 GG ohnehin".
Die Zuwanderungsbewegung nach Deutschland ab dem Jahr 2014/2015 habe, so das Urteil zum Schluss, "zu einer Veränderung innerhalb der Gesellschaft geführt, die sowohl zum Tode von Menschen geführt hat als auch geeignet ist, auf lange Sicht zum Tod der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu führen. Sollte die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr in der Lage sein, das Gewaltmonopol innerhalb ihrer Grenzen effektiv und wirksam auszuüben, ist hiermit ein schleichender Untergang verbunden, wie es einst im römischen Weltreich auch der Fall war“.
Wenn andererseits, so das Urteil, eine dem Umweltschutz verschriebene Partei zu Wahlkampfzwecken Plakate aufgestellt hätte, die im Hintergrund deutsche Städte benennen, in denen die Deutsche Umwelthilfe gerichtlich Fahrverbote erstritten hat und die plakativ äußern: "Stoppt die Emissionen, Klimawandel tötet, handelt jetzt!", würde schließlich auch niemand auf die Idee kommen, diese Partei würde dazu auffordern, gewaltsam gegen Autofahrer oder Betreiber von Öl- /Gasheizungsanlagen vorzugehen.
Dass die Stadt das NPD-Plakat habe abgehängt sehen wollen, sei, so das Urteil, diktatorisch sowie eine "nicht botmäßige Unterdrückungsmaßnahme".
Die richterliche Unabhängigkeit
Der Richter am VG Gießen hat diese Entscheidung allein getroffen. Sie wurde ihm als Berichterstatter der 4. Kammer übertragen, aufgrund einverständlicher Entscheidung der Parteien des Rechtsstreits (§ 87a Verwaltungsgerichtsordnung, VwGO). Eine solche Übertragung ist üblich und hat – anders als die Übertragung auf den Einzelrichter gemäß § 6 VwGO - mit der besonderen Bedeutung einer Rechtssache nichts zu tun. Gegen die einvernehmliche Entscheidung der Parteien gibt es auch kein Vetorecht der Kammer oder eines ihrer Mitglieder.
Niemand anderes hatte Einblick in das Urteil oder gar eine Möglichkeit, auf dieses Einfluss zu nehmen. Das verbietet der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. Ihre Grenzen findet diese allein im Strafrecht sowie im Disziplinarrecht; über die inhaltliche Richtigkeit des Urteils werde der VGH Hessen befinden, sagte die Sprecherin des VG Gießen auf Anfrage von LTO.
Es geht in solchen Fällen darum, ob die Wahlwerbung einen Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet und dadurch dessen Menschenwürde angreift. Es kommt darauf an, ob Teilen der Bevölkerung ihre Würde als Personen abgesprochen wird. Es geht manchmal um die Reichweite der Meinungsfreiheit, manchmal um die Frage, ob eine Aussage - von den Rechten gern argumentiert - "so nicht gemeint" gewesen sei. Um die Frage, ob ein Satz wie "Migration tötet" eine Tatsachenbehauptung ist, die zudem als wahr angesehen wird, geht es sicher nicht.
Der VGH Hessen wird sich bei seiner Entscheidung über das Gießener Urteil sicherlich an der Rechtsprechung des BVerfG orientieren. Betreffend das Wahlplakat hat das BVerfG entschieden, dass die Verwaltungsgerichte nicht überzeugend dargelegt hätten, dass allein der Slogan "Migration tötet" alle Migranten verächtlich mache und daher volksverhetzend sei (Beschl. v. 24.05.2019, Az. 1 BvQ 45/19); die NPD musste das Plakat aus anderen Gründen entfernen, final insgesamt bewertet hat das BVerfG es in dem einstweiligen Anordnungsverfahren nicht*. Einen Wahlwerbespot der NPD im Mai 2019 haben die Karlsruher Richter für nicht evident volksverhetzend (BVerfG, Beschl. v. 15.05.2019, Az. 1 BvQ 43/19) erklärt, der Rundfunk Berlin-Brandenburg musste ihn ausstrahlen. Allerdings ging es dabei um einen Spot, der den Slogan "Migration tötet" gerade nicht mehr enthielt; die NPD hatte ihn verändert. Zwei Wochen zuvor nämlich hatte das BVerfG ihre Wahlwerbung mit diesem Slogan – im Kontext mit der Forderung nach der Schaffung von "Schutzzonen für Deutsche" - für volksverhetzend befunden (BVerfG Beschl. v. 27.04.2019, Az. 1 BvQ 36/19). Den Vortrag der NPD, die Formulierung "Migration tötet" sei "böswillig missverstanden" worden, habe das zuständige OVG nachvollziehbar als "fernliegend ausgeschlosssen", so die Verfassungsrichter. In den Urteilsgründen des VG Gießen finden diese Entscheidungen von Deutschlands höchsten Richtern bei der Prüfung, ob das Plakat volksverhetzend ist*, keine Erwähnung.
Anm. d. Red.: Entscheidung des BVerfG 1 BvQ 45/19 und damit einhergehende Änderungen auf Leserhinweis eingefügt am 02.12.2019, 11:15 Uhr. Vielen Dank! (pl)
Pia Lorenz, VG Gießen zu NPD-Wahlplakat: . In: Legal Tribune Online, 02.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38987 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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