Debatte nach Abschiebung von Sami A.: Was ist mit dem Recht, lieber Staat?

von Tanja Podolski

16.07.2018

Wieder einmal hält sich eine Behörde nicht an eine gerichtliche Entscheidung. Im Fall des Tunesiers Sami A. soll auch das Innenministerium an dem Rechtsbruch beteiligt sein. Es ist an der Zeit, sich Sorgen zu machen.

Sami A. gilt als Gefährder. Viele Menschen, darunter beeindruckend viele Politiker, jubeln, dass dieser Mann am vergangenen Freitag nach Tunesien abgeschoben wurde – während Juristen ungläubig und schockiert erstarren. Wieder einmal, muss man nach Fällen wie dem ignorierten Fahrverbot in München, dem rechtswidrigen Verhalten der Stadt zur Stadthalle in Wetzlar, den Äußerungen zu Fahrverboten in NRW und den Aussagen etwa von Alexander Dobrindt über Anwälte im Asylrecht feststellen.

Dabei beginnt das Grummeln in Bauch für viele derer, die sich einst der Wahrung des Rechts verschrieben haben, schon bei der Einstufung eines Menschen als Gefährder. Denn: Diese Menschen wurden nicht wegen einer Straftat rechtskräftig verurteilt. Der Begriff ist nur durch Beschlüsse der Innenministerkonferenz bundeseinheitlich abgestimmt und definiert, eine gesetzliche Definition gibt es nicht. Das Volk nimmt die Einstufung dieser Menschen als gefährlich für die öffentliche Sicherheit und Ordnung hin - im Vertrauen auf die Polizei und die ihr vom Rechtsstaat gegebenen Befugnisse. Und zwar trotz Vorfällen wie zum G20-Gipfel, den Oury Jalloh und der des israelischen Professors Yitzhak Melamed, der nach einem Angriff auf seine Person von der Polizei verletzt wurde.

Wird nun ein solcher Gefährder wie im Fall von Sami A. endlich abgeschoben, ist der Jubel grenzenlos. Selbst wenn wie hier eine gerichtliche Entscheidung existiert, die genau diese Abschiebung verbietet.

Rechtswidrigkeit "sonnenklar"

Am Freitagmorgen ging es für den mutmaßlichen früheren Leibwächter von Al-Kaida-Chef Osama bin Laden mit dem Flieger zurück in sein Heimatland Tunesien. Am Abend zuvor hatte das Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen den Beschluss gefasst, dass die Abschiebungsverbote weiter Bestand haben (Beschl. v. 12.07.2018, Az. 7a L 1200/18.A), die Entscheidung kam beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) jedoch erst an, als das Flugzeug mit Sami A. aus Düsseldorf schon Richtung Tunis in der Luft war. Am Freitagnachmittag ordnete das VG an, der Mann sei nach Deutschland zurückzuholen (Beschl. v. 13.07.2018, Az. 8 L 1315/18). Die Abschiebung sei "grob rechtswidrig" und "verletzt grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien", heißt es in der Pressemitteilung des Gerichts.

Am VG Gelsenkirchen geht es nun rund. Nicht nur wegen der vielen Presseanfragen, sondern vor allem wegen des Shitstorms, dem das Gericht nun ausgesetzt ist. Allen voran Pressesprecher und Richter am VG Wolfgang Thewes. Der war von der Abschiebung am Freitagmorgen selbst überrascht worden: "Die Kammer hat sich vom BAMF versichern lassen, dass der zunächst für den 12. Juli festgesetzte und damit gerichtsbekannte Termin für die Abschiebung storniert wurde und hat keinen Zweifel daran gelassen, dass sie einen Zwischenbeschluss fassen werde, wenn ein neuer zeitnaher Termin für eine Abschiebung festgesetzt werden sollte", sagt Thewes. Die Richter hätten davon ausgehen können, dass nicht abgeschoben wird, bevor das Gericht im Eilverfahren in der Sache entscheidet.

Doch trotz mehrfacher Anfragen des Gerichts hätten alle beteiligten Behörden den Zeitpunkt der geplanten Abschiebung nicht bekanntgegeben. "Es musste dem BAMF aber sonnenklar sein, dass das Gericht die Abschiebung vor einer gerichtlichen Entscheidung stoppen würde", sagt Thewes. Abgeschoben wurde dann am Freitagmorgen aber doch. "Wir sind von diesem Vorgang völlig überrascht", sagt der Richter am VG. "Was dabei auf der Strecke bleibt, ist der Rechtsstaat."

Politiker: "Juristisch fragwürdige Entscheidung"

So twittert der Bundestagsabgeordnete Nikolas Löbel (CDU), der Rechtsstaat müsse "sich zu Recht fragen lassen, ob er noch alle Tassen im Schrank hat". Sein Parteikollege Steffen Bilger äußert auf dem Kurznachrichtendienst Twitter: "Ein Gericht fällt eine in jeder (auch juristischer!) Hinsicht fragwürdige Entscheidung, schafft es dann nicht, sein Fax rechtzeitig zu versenden […] und einem SPD-MdL fällt nichts Besseres ein, als den Bundesinnenminister anzuzeigen?"

Das hat Sozialdemokrat Sven Wolf nämlich gemacht, auch wenn – mal abgesehen von der Immunität eines Ministers – nicht sicher ist, ob dies tatsächlich in einem Strafverfahren münden wird. Jedenfalls steht der Verdacht im Raum, die Behörden könnten eine Gerichtsentscheidung missachtet haben, die auch dem Bundesinnenministerium bekannt gewesen sein soll.

Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) warnte indes vor einer Beschädigung des Rechtsstaates. "Was unabhängige Gerichte entscheiden, muss gelten", sagte sie am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Die Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz sei nicht verhandelbar. Die Justizministerin verteidigte die rechtlichen Möglichkeiten für von der Abschiebung bedrohte Menschen: "Wer Rechtsmittel gegen staatliche Entscheidungen ablehnt, legt damit die Axt an die Wurzel unseres Rechtsstaates", sagte sie. "Es gehört zum Fundament unseres Rechtsstaates, sich gegen staatliche Entscheidungen zur Wehr setzen zu können."

Auch der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck äußerte sich gegenüber der Süddeutschen Zeitung: "Entweder handelt es sich um absolut peinliches Chaos oder es stinkt zum Himmel, weil die Innenbehörden ein Exempel statuieren wollten." Auch er warnte vor einer Beschädigung des Rechtsstaats. "Vor allem ist zu klären, ob Innenminister Horst Seehofer in Person versucht hat, Recht zu beugen und die Gerichtsentscheidung umgehen zu lassen", sagte er.

Dagegen sagte die Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Alice Weidel, der dpa, der Fall zeige in erschreckender Weise auf, "wie sehr sich Behörden und Gerichte vom gesunden Menschenverstand entfernt haben". Die FDP-Bundestagsfraktion steht nach Worten ihres stellvertretenden Vorsitzenden Alexander Graf Lambsdorff hinter der Entscheidung für die Abschiebung. "Diejenigen in der Exekutive, die die Abschiebung durchgeführt haben, haben sich nichts vorzuwerfen", betonte er.

Laschet: "Können froh sein, dass Gefährder nicht mehr in Deutschland ist"

So sieht es auch NRW-Ministerpräsident Armin Laschet: "Wir als Politiker haben nach Recht und Gesetz zu entscheiden, das hat die Landesregierung gemacht", sagte er am Montag in Berlin vor einer Sitzung des CDU-Präsidiums. "Sie wissen, wann der Bescheid eingegangen ist, nämlich zu spät", sagte Laschet zum Vorwurf, die Behörden hätten voreilig gehandelt. "Und ich denke, im Ergebnis können wir froh sein, dass der Gefährder nicht mehr in Deutschland ist."

Laschet sagte, das Gericht habe zwei unterschiedliche Entscheidungen innerhalb einer Woche getroffen. "Wenn zwei Kammern eines gleichen Verwaltungsgerichts so entscheiden, wird da mancher seine Fragen haben", sagte er. Die Politik jedenfalls müsse schnell handeln.

Tatsächlich wurden seit Ende Juni von Sami A. sogar drei Verfahren betrieben, wie das Gericht mitteilt. Zwei gegen die Ausländerbehörde der Stadt Bochum, einmal gegen die Androhung der Abschiebung (Az. 8 L 1240/18) und ein anderes Mal ein Antrag gemäß § 123 Abs. 1 VwGO auf Abschiebungsschutz bis zur Entscheidung im Verfahren (Az. 7a L 1200/18.A und 8 L 1304/18) sowie ein gegen das BAMF gerichtetes Verfahren gegen den Widerruf der Feststellung von Abschiebungsverboten (Az. 7a L 1200/18.A). Den Antrag gegen die Androhung der Abschiebung lehnte das VG Gelsenkirchen vergangenen Mittwoch ab. Diese Entscheidung steht allerdings der über das Bestehen von Abschiebungsverboten nicht entgegen, wie Laschet, der das erste juristische Staatsexamen abgelegt hat, wissen könnte.

Was das Ministerium wusste

Das Bundesinnenministerium (BMI), dem das BAMF untersteht, wusste nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) seit Mittwoch, dass die Abschiebung für Freitag geplant war. Aufgrund von Informationen der Bundespolizei sei bekannt gewesen, "dass es Planungen für eine Rückführung am Freitag, dem 13. Juli 2018, von Sami A." gab, zitierte die Zeitung eine Sprecherin des Ministeriums. Die Informationen über die Abschiebung A.s seien mit dem Hinweis verbunden gewesen, "dass die Entscheidungszuständigkeit für die Durchführung der Rückführung" beim Land Nordrhein-Westfalen liege.

Das NRW-Flüchtlingsministerium kündigte gegen die Rückholentscheidung des VG Gelsenkirchen die Beschwerde an, die tatsächlich nur von der Stadt Bochum eingelegt werden kann – nur deren Ausländerbehörde ist beschwerdebefugt. Das Ministerium kann aber die entsprechende Anweisung erteilen. "Die Beschwerde ist beim VG Gelsenkirchen innerhalb von zwei Wochen einzulegen", erklärt Richter am VG Thewes, darüber entscheidet dann das Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW in Münster.

Doch selbst wenn das OVG die Beschwerde zurückweist, ist Sami A. damit noch lange nicht wieder in Deutschland. Denn die tunesische Justiz will ihn vorerst für eigene Ermittlungen im Land behalten. "Wir haben eine souveräne Justiz, die gegen ihn ermittelt", sagte der Sprecher der tunesischen Anti-Terror-Behörde der dpa. Diese Ermittlungen müssten abgewartet werden. "Wir haben in dem Verfahren entschieden, damit hat es für uns erst einmal sein Bewenden", sagt Thewes.

Aus Sicht von Sami A.s deutscher Anwältin Seda Basay-Yildiz spricht nichts gegen die Rückkehr ihres Mandanten. Sobald er in Tunesien freigelassen werde, müsse die Deutsche Botschaft ein Visum ausstellen, sagte sie der dpa. Ähnlich äußerte sich der tunesische Rechtsanwalt Seif Eddine Makhlouf, wie die Bild (Montag) berichtete. "Der deutsche Innenminister hätte meinen Mandanten nie nach Tunesien abschieben dürfen. Das ist ein unglaublicher Skandal, der in Deutschland passiert ist, schließlich sind keine der Vorwürfe jemals bewiesen worden", zitierte die Zeitung den Rechtsanwalt.

Mit Material von dpa

Zitiervorschlag

Tanja Podolski, Debatte nach Abschiebung von Sami A.: . In: Legal Tribune Online, 16.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29783 (abgerufen am: 06.11.2024 )

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