Millionen Fernsehzuschauer bekamen verbotene Aufnahmen der Urteilsverkündung am Verwaltungsgericht Berlin zu sehen. Wie kam es dazu? Ein Zwischenfall, der zeigt, wie künstlich das Kameraverbot bei deutschen Gerichten geregelt ist.
Wie jeden Abend haben wieder rund sechs Millionen Zuschauer am Donnerstagabend die 20 Uhr-Tagesschau-Sendung der ARD eingeschaltet. Zu sehen bekamen sie einen Beitrag über eine Klage von Gerhard Schröder, der sein Altkanzlerbüro samt Personal zurückhaben will. Gezeigt wurde darin auch wie die Vorsitzende Richterin im Plenarsaal des Verwaltungsgerichts (VG) Berlin ihr Urteil verkündete. Nur wenigen dürfte das merkwürdig vorgekommen sein, dabei sind solche TV-Aufnahmen verboten.
Die Urteilsverkündung darf an deutschen Gerichten nicht gefilmt werden – eine Ausnahme gibt es nur für die obersten Bundesgerichte wie Bundesgerichtshof oder Bundesverwaltungsgericht.
Im § 169 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) heißt es: "Die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse ist öffentlich." Aber: "Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts sind unzulässig." Wie kam es zu diesem Zwischenfall in Berlin?
"Im Namen des Volkes…" im Saal 0416 liefen die Kameras weiter
Nachdem das Gericht den ganzen Vormittag bis 12 Uhr verhandelt hatte, legte es eine Mittagspause ein, beriet sich und wollte gegen 15 Uhr sein Urteil verkünden. Für diesen neuen Auftritt des Gerichts nach der Pause waren Kameras zugelassen, so ist es üblich am Verwaltungsgericht, wie auch an anderen Gerichten in der ersten Instanz. Das etwas merkwürdige Ritual sieht so aus: Wenn sich die Tür der Richterinnen und Richter in den Saal öffnet und diese sich hinter der Richterbank zu ihren Plätzen begeben, darf gefilmt werden. Eine Chance, die Kamerateams gerne nutzen, sind Bewegtbilder vom Gericht sonst doch kaum zu bekommen. In der Regel bleiben die Richterinnen und Richter dann kurz stehen, bis der oder die Vorsitzende den Hinweis gibt, dass die Kameras ausgeschaltet werden müssen.
Das Verbot gilt auch ganz unabhängig davon, ob die Vorsitzende Richterin es in der Verhandlung anordnet, umgekehrt kann sie vom Verbot auch nicht abweichen. Bei der Eröffnung der Verhandlung am Donnerstagmorgen hatte die Vorsitzende Richterin beim Erscheinen des Gerichts die Kamerateams entsprechend hingewiesen, vor der Urteilsverkündung war es in der angespannten Erwartungsatmosphäre offenbar einfach untergegangen.
VG Berlin: "Bisher keinen Anlass, zu zweifeln, dass Fernsehteams bekannt ist, dass die Verkündung nicht gefilmt werden darf"
Die Gesetzesvorschrift ist zwingend, der oder die Vorsitzende müssen für die Durchsetzung der Verfahrensvorschriften sorgen. "Wir hatten bisher keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass den Fernsehteams bekannt ist, dass die Urteilsverkündung nicht gefilmt werden darf", sagte ein Pressesprecher des VG auf Anfrage von LTO am Dienstag. Vielleicht fünf Kameraleute filmten die Verkündung. So fand die Sequenz ihren Weg in die Tagesschau-Sendung um 20 Uhr.
Ruft man die Sendung online wieder auf, ist der Schröder-Beitrag mittlerweile nachträglich bearbeitet und mit einem Hinweis versehen: "Kurze Unterbrechung. Diese Bilder dürfen aus rechtlichen Gründen nicht gezeigt werden." Der Ton läuft aber noch, man hört die Vorsitzende Richterin sagen: "Im Namen des Volkes verkünde ich folgendes Urteil. Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens."
Sanktionen gegen Medien, die solche verbotenen Aufnahmen verwenden, sieht das Gesetz nicht vor. Der § 169 GVG entfaltet als Verfahrensvorschrift keine Außenwirkung. Die Vorschrift § 353d im Strafgesetzbuch bestraft, wer entgegen einem gesetzlichen Verbot über eine Gerichtsverhandlung berichtet – allerdings nur dann, wenn die Öffentlichkeit ausgeschlossen war.
Muss das Verfahren neu aufgerollt werden?
Kann das, was nach einem skurrilen Zwischenfall klingt, Folgen für das Schicksal von Schröders Klage haben? Verstöße gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit sind ein absoluter Revisionsgrund (§ 138 Verwaltungsgerichtsordnung bzw. § 547 Zivilprozessordnung), und zu diesem Komplex gehört auch der § 169 GVG mit seinem Kameraverbot. "Wenn es um ein 'Weniger' an Öffentlichkeit geht, wenn zum Beispiel der Sitzungssaal verschlossen ist, dann handelt es sich klar um einen absoluten Revisionsgrund", sagt Anna Bernzen, Juniorprofessorin für unter anderem das Recht der Digitalisierung an der Uni Regensburg. "Bei einem 'Mehr' an Öffentlichkeit wie im Fall der Veröffentlichung von verbotenen Aufnahmen aus dem Gerichtssaal ist die Lage umstritten, es dürfte sich jedenfalls um einen Verfahrensfehler, einen relativen Revisionsgrund handeln." Der müsste sich aber auch auf das Urteil ausgewirkt haben. Folgen einer erfolgreichen Revision: Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung zur erneuten Entscheidung.
Vor der Revision kommt in der Regel aber noch die Berufung. Die hatte das VG am Donnerstag zugelassen, Schröders Anwalt Ralph Heiermann aus Hannover hatte bereits in der Verhandlung signalisiert, dass Schröder diesen Schritt gehen will. Hätte das Gericht die Berufung nicht ohnehin zugelassen, hätte die gefilmte Verkündung möglicherweise zu einem Zulassungsgrund geführt. So bietet eine Berufungsverhandlung die Möglichkeit, den Verfahrensfehler quasi nachträglich zu "heilen", indem die verbotenen Aufnahmen bei einer Wiederholung der Verhandlung vermieden werden.
Medienrechtlerin: "Fall aus Berlin zeigt Absurdität der Rechtslage"
Seit Jahrzehnten wird über die Medienöffentlichkeit bei Gerichtsverhandlungen diskutiert, besonders umstritten: Filmaufnahmen aus dem Gerichtssaal. Was darf aufgenommen werden, wer muss geschützt werden, woran hat die Öffentlichkeit ein Interesse?
Lange Zeit galt ein sehr strenges Verbot ohne Ausnahmen, seit 2018 erlaubt das Gesetz den obersten Bundesgerichten, wie Bundesgerichtshof oder Bundesverwaltungsgericht, Kameras bei der Verkündung zuzulassen. Es gab auch gegen diese Reform mit dem wenig wohlklingenden Namen EMöGG ("Gesetz über die Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren") viel Widerstand aus der Justiz. Kritikerinnen und Kritiker befürchteten, die Aufnahmen könnten verkürzt und Aussagen verzerrt werden, der Auftritt der Richterinnen und Richter könnte in den Mittelpunkt rücken, das Urteil selbst zur Nebensache werden. Die Gesetzesreform wurde auf den letzten Metern noch einmal abgeschwächt.
"Der Fall aus Berlin zeigt die ganze Absurdität der derzeitigen Rechtslage", sagt Rechtswissenschaftlerin Bernzen. Die Kameras dürften den Einlauf der Richterinnen und Richter filmen, nicht aber das eigentlich für das Publikum interessante: Die Verkündung des Urteils. Bernzen hat selbst für eine Zeit als Rechtsjournalistin, u.a. für LTO und ARD-Rechtsredaktion, gearbeitet, damals hat sie sich in einer Gerichtsverhandlung über die strenge Beschränkung der Filmaufnahmen gewundert. Sie machte das Thema zum Gegenstand ihrer Dissertation mit dem Titel "Gerichtssaalberichterstattung".
Was können BGH und Co, was Amts- und Verwaltungsgericht nicht können?
Warum hat man nur dem Bundesgerichtshof und Co erlaubt, Kameras zuzulassen, traut man das Amtsgerichten und Verwaltungsgerichten nicht zu? In der Entwurfsbegründung zur Gesetzesreform aus 2018 klingt das zumindest ein wenig so, dort heißt es: "Die obersten Bundesgerichte sind auf Grund der besonderen Qualifikation und Erfahrung der Bundesrichterinnen und -richter am ehesten geeignet, Medienübertragungen zu ermöglichen." Bernzen sieht damit die Medienkompetenz angesprochen, mag sein, dass man an Bundesgerichten mehr Medientrainings hatte.
Der Gesetzgeber hat aber auch noch eine weitere Erwägung dokumentiert: "Anders als den Entscheidungen der Instanzgerichte kommt den Entscheidungen der obersten Bundesgerichte wegen ihrer rechtsgrundsätzlichen Bedeutung häufig eine erhebliche Breitenwirkung zu. Sie wirken sich vielfach in besonderer Weise auf das gesellschaftliche und politische Leben aus."
Bernzen geht davon aus, dass die Argumente gegen Aufnahmen auf dem Weg in die oberen Instanzen zumindest an Gewicht verlieren. Vor allem, weil in der Revision keine Zeugen mehr vor Beeinflussung geschützt werden müssten. "Andererseits gibt es auch in der ersten Instanz Verfahren, die für die Öffentlichkeit hoch interessant sind, etwa Dieselverfahren, die verglichen werden und höhere Instanzen gar nicht erst erreichen." Bernzen spricht sich dafür aus, dass man auch an anderen erstinstanzlichen Gerichten außerhalb des Strafverfahrens, den Richterinnen und Richter zumindest die Möglichkeit gibt, darüber zu entscheiden, ob gefilmt werden darf.
Wer gegen Kameras bei der Verkündung ist, dem gefällt auch die Dokumentation der Hauptverhandlung nicht…
Zugleich hat Bernzen wenig Hoffnung, dass sich allzu bald etwas in diese Richtung ändern wird. "Seit 1998 darf in beschränktem Umfang beim Bundesverfassungsgericht gefilmt werden, 2018 kam die Erweiterung für die obersten Bundesgerichte. Wenn das das Tempo für Reformen ist, muss ich skeptisch bleiben, ob absehbar in Deutschland eine Liberalisierung kommen wird." Sie verweist auf die Lage in anderen Ländern wie England, dort wurden die Regelungen schrittweise immer weiter gelockert. Zum Teil sind Livestreams möglich, Gerichte betreiben eigene Youtube-Kanäle. Der Europäische Gerichtshof überträgt mittlerweile auch ausgewählte Verhandlungen live im Netz.
Die obersten Bundesgerichte in Deutschland haben in den ersten drei Jahren, seitdem Kameras bei der Verkündung zugelassen sind, gute Erfahrungen gemacht, anfängliche Befürchtungen haben sich gerade nicht bewahrheitet.
Sollte die Klage Schröders bis in die Revision zum Bundesverwaltungsgericht gelangen, könnten die Zuschauer der Tagesschau und anderer Medien wieder Aufnahmen der Verkündung zu sehen kommen – dann ganz legal.
Tagesschau zeigt Aufnahmen aus Gerichtssaal: . In: Legal Tribune Online, 10.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51743 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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