Das Urteil des OVG Bautzen zur Corona-Demo in Leipzig: Unrea­lis­ti­sche Richter?

von Annelie Kaufmann

12.11.2020

Nach der Corona-Demo in Leipzig am Samstag hagelt es Kritik – auch an den Richtern des OVG Bautzen, die die Versammlung genehmigt haben. Was ist dran? Und wie reagiert die Politik?

Nach der "Querdenken"-Demonstration am Samstag in Leipzig reißt die Kritik an den verantwortlichen Behörden nicht ab. Besonders im Fokus: Die drei Richter des 6. Senats am Oberverwaltungsgericht (OVG) Bautzen, die die Versammlung in der Leipziger Innenstadt genehmigt hatten – mit maximal 16.000 Teilnehmenden, Mindestabstand und Mund-Nase-Bedeckung. Tatsächlich wurden es jedoch deutlich mehr Demonstrierende, Mindestabstände wurden nicht eingehalten, kaum jemand trug einen Mundschutz und die Polizeiverlor offensichtlich die Kontrolle über die Lage.

Die Entscheidung des OVG stieß auf scharfen Widerspruch in den Medien, bei Wissenschaftlern und Politikern. Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) bezeichnete es als unverantwortlich, eine solche Veranstaltung in der Leipziger Innenstadt zuzulassen. Die Einhaltung der Corona-Regeln sei dabei von vornerein unmöglich gewesen. Die FAZ schrieb von einer "Fehleinschätzung", der emeritierte Kriminologieprofessor Thomas Feltes fragte auf dem Verfassungsblog: " War man so blauäugig, dass man davon ausging, der sechzehntausend und erste Teilnehmer würde zuhause bleiben?" Der Deutsche Richterbund (DRB) mahnte dagegen, die "pauschale Justiz-Schelte mancher sei sehr befremdlich."

Der Präsident des OVG Bautzen Erich Künzler äußerte zwar grundsätzlich Verständnis für Kritik: "Natürlich muss die Justiz kritisiert werden können. Auch die Meinung der Justiz ist antastbar", sagte er am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur in Dresden. Spekulationen um eine ideologisch motivierte Entscheidung aber wies er klar zurück. In vielen Äußerungen seien – weit über legitime Kritik hinaus – sogar Vermutungen angestellt worden, dass die Richterinnen und Richter des OVG selbst Corona-Leugner seien. Es sei eine absurde Annahme, dass Richter in Bautzen mit Verschwörungstheoretikern sympathisierten, so Künzler.

Das VG rechnete mit bis zu 50.000 Teilnehmern, das OVG hielt das für unrealistisch

Die Stadt Leipzig hatte die "Querdenken"-Versammlung eigentlich gar nicht in der Innenstadt stattfinden lassen wollen. Die Versammlungsbehörde hatte stattdessen nur eine ortsfeste Kundgebung (ohne Demonstrationszug) auf Parkplätzen im Bereich Neue Messe Leipzig genehmigt – dort sollte ausreichend Platz sein, um Mindestabstände einzuhalten. Zudem sollten die Teilnehmer Mund-Nasen-Bedeckungen tragen.

Die Veranstalter wehrten sich dagegen mit einem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Das Verwaltungsgericht (VG) Leipzig gab aber zunächst der Stadt Recht: Der Augustusplatz in der Leipziger Innenstadt sei nicht geeignet, zumal es möglich erscheine, dass bis zu 50.000 Menschen zu der Versammlung kommen könnten.

Das OVG sah das jedoch anders: Die Zahl 50.000 sei von den Veranstaltern erstmals in dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz genannt worden, dort aber im Zusammenhang mit anderen, nicht verbotenen Veranstaltungen im Innenstadtbereich. Sie sei im Übrigen "rein spekulativ", so die OVG-Richter in der Begründung ihres Beschlusses.Sie stützten sich auf die Gefahrenprognose der Polizei, die, mit Stand vom 5. November, 16.000 Teilnehmer, aber eben nicht mehr, für "durchaus realistisch" gehalten habe.

Augustusplatz minus "nicht nutzbare Flächen" = ausreichend Platz?

Detailliert rechneten die Richter aus, wieviel Quadratmeter den Teilnehmern auf dem Augustusplatz und den angrenzenden Flächen zur Verfügung stehen: Nach Abzug "nicht nutzbarer Flächen" wie Parkflächen, Gebäuden und Haltestellen bleibe eine Fläche von 111.401,93 Quadratmetern und damit genügend Puffer* – denn bei 16.000 Teilnehmern würden 96.000 Quadratmeter schon ausreichen, um die vom Gesundheitsamt geforderten sechs Quadratmeter pro Teilnehmer zu gewährleisten.

Das OVG betonte in seiner Begründung, der Staat müsse nicht nur die grundgesetzlich garantierte Versammlungsfreiheit der Teilnehmer beachten, sondern ihn treffe auch die grundrechtliche Schutzpflicht, Leben und körperliche Unversehrtheit Dritter zu schützen. Die Versammlungsbehörde könne deshalb durchaus verlangen, dass die Teilnehmer Mindestabstände einhalten und Mund-Nase-Bedeckungen tragen. Zu berücksichtigen sei aber auch, dass die Veranstalter die Kundgebung unbedingt auf dem symbolträchtigen Augustusplatz abhalten wollten. So sahen sie ihre Entscheidung, die Teilnehmerzahl auf 16.000 Menschen zu beschränken, als das mildere Mittel gegenüber der Verlegung der Versammlung auf die Parkplätze an der Neuen Messe.

Die Angaben dazu, wieviele Teilnehmer sich dann tatsächlich am Augustusplatz einfanden, gehen auseinander. Die Polizei ging am Samstagnachmittag davon aus, dass sich tatsächlich mindestens 20.000 Personen im Umfeld der "Querdenken"-Demonstration am Leipziger Augustusplatz aufhielten. Die Forschungsgruppe "Durchgezählt" der Universität Leipzig schätzte die Demonstration sogar auf rund 45.000 Teilnehmer.

Die Versammlungsbehörde der Stadt löste die Versammlung am Samstagnachmittag auf, als die genehmigte Teilnehmerzahl von 16.000 Menschen deutlich überschritten wurde. Die Polizei, die nach eigenen Angaben mit ca. 3.200 Einsatzkräften vor Ort war, war jedoch nicht in der Lage, die Auflösung durchzusetzen. Es kam zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten, Gegendemonstranten und Polizei, zahlreiche "Querdenken"-Teilnehmer liefen über den Leipziger Ring, darunter Rechtsextreme und gewaltbereite Hooligans.

OVG sah nicht genug Gründe, die Versammlung zu verlegen

Hätten die Richter das vorher wissen müssen? Waren sie tatsächlich "blauäugig" oder sogar blind? Die Begründung des Beschlusses fällt knapp aus. Verwunderlich ist das nicht – nach Angaben des OVG erging die Entscheidung innerhalb von drei Stunden.

Der Eindruck, die Richter hätten den Corona-Leugnern von "Querdenken" beispringen wollen, drängt sich aber nicht auf, wenn man die Begründung liest. Es wäre ohnehin ungewöhnlich, wenn sich die Richter inhaltlich mit den Zielen der Versammlung auseinandergesetzt hätten – vorgekommen ist es aber schon, dass Richter in einem Beschluss durchblicken lassen, wie sie zur Sache stehen. Im vergangenen Jahr sorgte etwa ein Richter des VG Gießen für Aufsehen, der ein NPD-Plakat für nicht volksverhetzend hielt und sich dabei ausführlich zur Migrationspolitik der Bundesregierung einließ. Von einem solchen Fall kann hier aber nicht die Rede sein. Offensichtlich haben sich die Richter schlicht auf die Einschätzung der Polizei verlassen, die jedenfalls aus Sicht des Gerichts keine ausreichenden Argumente lieferte, um die Versammlung zu verlegen.

Diese Argumente lieferte eher das VG, das sich in erster Instanz auch auf die Erfahrungen mit den letzten Großdemonstrationen von Corona-Leugnern in Berlin gestützt und deshalb auch eine deutlich höhere Teilnehmerzahl für realistisch gehalten hatte. Nach Ansicht des VG reichte der Platz in der Innenstadt deshalb schlicht nicht aus, um die Versammlung entsprechend der Sächsischen Coronaschutzverordnung durchzuführen, eine Verlegung hielten die VG-Richter hingegen für zumutbar. Vertretbar scheinen beide Entscheidungen – offensichtlich lagen die VG-Richter aber näher an der Realität.

Auf der Brokdorf-Linie des BVerfG?

Prof. Dr. Clemens Arzt vom Forschungsinstitut für öffentliche und private Sicherheit in Berlin sagtedazu gegenüber LTO: "Das OVG Bautzen beschränkt sich in seiner Begründung auf eine recht schematische Betrachtung der zu erwartenden Lage aus ex ante Sicht, noch dazu in einem Eilverfahren. Ex post sind wir immer schlauer…".

Seiner Einschätzung nach dürfte das Gericht insgesamt auf der Linie der versammlungsrechtlichen Rechtsprechung zum Vorrang von Beschränkungen und Auflösung vor einem präventiven Totalverbot liegen. "Vorabverbote als mit Art. 8 Grundgesetz im Regelfall nicht vereinbar anzusehen, ist auch Konsequenz vieler Auseinandersetzungen vor den Verwaltungsgerichten, nicht selten aus dem eher linken politischen Spektrum", so Arzt weiter.

Arzt betont auch: "Versammlungsfreiheit ist das Recht auf abweichende Meinung, sei diese aus Sicht der Mehrheit auch absurd. Eine Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen und auch für die Auffassung, dass Corona nicht schlimmer sei als eine Grippe, ist aus demokratischer Sicht genau das, was das BVerfG in seiner Brokdorf-Entscheidung meinte." Allerdings könne und dürfe die Polizei einschreiten, "wenn tausende Menschen eng an eng und ohne Maske stundenlang durch die Innenstadt laufen", so Arzt weiter. Denn dann gehe es auch um den Schutz von Leben und Gesundheit Dritter – hier insbesondere mit Blick auf eine mögliche Überlastung des Gesundheitssystems.

Sachsen reagiert mit neuer Verordnung: Künftig nur noch 1.000 Teilnehmer

Es wird nun auch Aufgabe der Politik sein, aufzuklären, wer welche Verantwortung trägt. Im Leipziger Stadtrat wurden am Mittwoch die Veranstalter der Kundgebung, die Polizei, das OVG und Innenminister Roland Wöller (CDU) für ihre Maßnahmen und Entscheidungen von nahezu allen Fraktionen im Leipziger Stadtrat heftig kritisiert. Am Donnerstag haben sich in einer nichtöffentlichen Sondersitzung der Innenausschuss und der Rechtsausschuss des Landtages mit dem Demonstrationsgeschehen befasst.

Zudem verschärft Sachsen die Regeln für Versammlungen. Die Zahl der Teilnehmer solle künftig auf 1.000 begrenzt werden. Voraussetzung ist, dass alle Teilnehmer sowie Ordner eine Mund-Nasen-Bedeckung tragen und zwischen allen Teilnehmern der Mindestabstand von 1,5 Metern gewahrt wird. Im Ausnahmefall sollen auch größere Kundgebungen möglich sein, wenn "technische und organisatorische Maßnahmen" getroffen werden, um das Infektionsrisiko zu senken, sagte Innenminister Roland Wöller (CDU) laut Deutscher Presse-Agentur. Das Land werde seine Corona-Schutzverordnung ab Freitag entsprechend anpassen.

Seit langem wird der uneinheitliche Umgang von Behörden und Gerichten mit Versammlungen während der Corona-Pandemie kritisiert. Die Bundesländer haben unterschiedlich strikte Regelungen erlassen, zudem können die einzelnen Versammlungsbehörden jeweils eigene Auflagen anordnen. So hat das OVG NRW am Mittwoch mehrere pauschale Corona-Beschränkungen für Demonstrationen in Köln für rechtswidrig erklärt. Direkt betroffen von der Entscheidung war unter anderem eine Kundgebung gegen die Corona-Schutzbestimmungen am rechten Rheinufer auf der Deutzer Werft. Eine Polizeisprecherin bestätigte laut Deutscher Presse-Agentur, dass die zunächst geschätzt 110 Teilnehmer nun keine Maske mehr tragen müssten.

*Korrektur am Tag der Veröffentlichung um 18:30 Uhr: Es heißt richtig 111.401,93 (nicht 11.401,93) Quadratmeter und gemeint sind damit auch angrenzende Flächen (Goethestraße bis  Karl-Tauchnitz-Straße und Grimmaischer Steinweg).

Zitiervorschlag

Das Urteil des OVG Bautzen zur Corona-Demo in Leipzig: . In: Legal Tribune Online, 12.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43416 (abgerufen am: 19.11.2024 )

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