Verteidiger und Bundesanwälte bekommen eine Menge zu lesen, Nebenklagevertreter hoffen auf Erklärungen zu den vielen offenen Fragen: Die schriftliche Urteilsbegründung im NSU-Prozess liegt vor.
3.025 Seiten umfasst das Urteil im NSU-Prozess. Hinzu kommen 44 Aktenordner mit dem Hauptverhandlungsprotokoll samt Anlagen. 93 Wochen hatten die Richter des 6. Strafsenats am Oberlandesgericht (OLG) München dafür Zeit. Am morgigen Mittwoch läuft die Frist ab, am Dienstag wurde die schriftliche Begründung fertiggestellt und zu den Akten genommen. Das heißt: Sie liegt bei der Geschäftsstelle des Gerichts.
Nun muss sie noch sämtlichen Verfahrensbeteiligten zugestellt werden: Die Angeklagten Beate Zschäpe, André Eminger, Holger Gerlach, Carsten Schultze, Ralf Wohlleben und ihre Verteidiger bekommen je ein Exemplar, ebenso die Nebenklagevertreter und die Bundesanwaltschaft. "Die Zustellung der Urteilsgründe an die revisionsführenden Verfahrensbeteiligten wird in Kürze erfolgen", teilte das Gericht mit. Während die Urteilsbegründung per Post versandt wird, wird das Hauptverhandlungsprotokoll den Rechtsanwälten in elektronischer Form auf DVD zugestellt.
Für die Verteidiger und die Bundesanwälte bedeutet das nun jede Menge Arbeit: Sobald ihnen das Urteil zugestellt ist, haben sie nur einen Monat Zeit, um die Schriftsätze zu sichten und die Revision zu begründen. Die Urteilsbegründung wird aber auch die Öffentlichkeit interessieren – der NSU-Prozess, in dem fünf Jahre lang verhandelt wurde, war nicht unumstritten, viele Fragen blieben offen.
Das OLG hatte die Hauptangeklagte Beate Zschäpe letztlich am 11. Juli 2018 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht hatte sie wegen zehnfachen Mordes, mehrfachen versuchten Mordes, Raubüberfalls sowie schwerer Brandstiftung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung für schuldig befunden. Die vier weiteren Angeklagten wurden zu Freiheitsstrafen zwischen zweieinhalb und zehn Jahren verurteilt.
Weiter eine zentrale Frage: War Zschäpe Mittäterin?
Eine zentrale Frage, die das Gericht zu klären hatte: War Zschäpe Mittäterin oder nur eine Gehilfin von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt? Das Gericht kam zu dem Schluss, dass sie Mittäterin war, der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hatte in seiner mündlichen Urteilsbegründung erklärt, sie habe "wesentliche und unverzichtbare Tatbeiträge" geliefert.
Die Verteidiger Zschäpes hatten stets versucht, das zu entkräften – das gilt sowohl für das Verteidigertrio Wolfgang Heer, Anja Sturm und Wolfgang Stahl, mit dem Zschäpe sich im Verlauf des Prozesses überwarf, als auch für den später von Zschäpe hinzugezogenen Verteidiger Mathias Grasel.
Stahl sagte gegenüber LTO, er rechne damit, dass es in einer Revisionsverhandlung vor dem Bundesgerichtshof (BGH) wieder um die Frage der Mittäterschaft von Beate Zschäpe gehen werde: "Der BGH hat hier sehr hohe Hürden gesetzt. Ich sehe bisher nicht, dass das OLG überzeugend erklären konnte, warum Beate Zschäpe ohne eigene Tatbeiträge Mittäterin an den von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt begangenen Morden, Überfällen und Anschlägen sein soll", so Stahl. "Aber wir werden da die Urteilsbegründung natürlich genau prüfen müssen – es kann ja auch sein, dass der Münchner Senat an dieser Stelle eine ganz neue Rechtsfigur konstruiert hat. Damit werden wir uns dann argumentativ auseinandersetzen müssen."
Verteidiger müssen jetzt schnell begründen
Den Verteidigern ist klar, dass sie nun schnell arbeiten müssen. Etwas Spielraum bleibt allerdings, erklärt Stahl: "Erhebt man nur die sogenannte allgemeine Sachrüge, rügt man also vor allem die Verletzung des materiellen Strafrechts, reicht es zur Begründung der Rüge im Prinzip aus, wenn man dem Gericht dies mit einem Satz mitteilt. Das geht also schnell und man kann hierzu auch nach Ablauf der Monatsfrist ergänzende Ausführungen nachreichen."
Anders ist es bei Verfahrensrügen, also Rügen, mit denen geltend gemacht wird, dass bestimmte Verfahrensvorschriften verletzt worden seien. Sie müssen innerhalb eines Monats vollständig angebracht werden. Stahl betont: "Das geht nur, wenn man dies bereits vorbereitet hat. Deshalb ist auch klar, dass sich die Bestellung des Pflichtverteidigers auch auf die Begründung der Revision erstrecken muss. Wer sonst sollte das leisten, wenn nicht ein Verteidiger, der die gesamte Hauptverhandlung, also auch etwaige Verfahrensfehler mitbekommen hat?"
Die Revisionsbegründung müssen also Stahl, Sturm und Heer noch abliefern, bevor sie sich nach dem Zerwürfnis zwischen ihnen und Zschäpe aus dem Verfahren verabschieden könnten. Ob sie in einer etwaigen Verhandlung vor dem BGH mit dabei sein werden, ist unklar, denn das müsste Zschäpe extra beantragen.
Warum nur zweieinhalb Jahre für André Eminger?
Auch die weiteren Angeklagten hatten Revision eingelegt, Schultze zog diese allerdings später zurück, das Urteil gegen ihn ist rechtskräftig. Für Aufsehen hatte vor allem gesorgt, dass Eminger vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord freigesprochen wurde und lediglich eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung erhielt. Dagegen wird die Bundesanwaltschaft in Revision gehen, sie hatte für Eminger ursprünglich zwölf Jahre gefordert.
"Unverständlich" findet das auch die Nebenklagevertreterin Antonia von der Behrens. Und zwar vor allem, weil das Gericht noch im September 2017 einen Haftbefehl gegen Eminger erlassen hatte und dabei einen dringenden Tatverdacht für den angeklagten versuchten Mord bejaht, also nur ein dreiviertel Jahr vor der Urteilsverkündung. "Diese Begründung werden wir sehr genau prüfen", so von der Behrens.
Die Angehörigen der NSU-Opfer hatten vor allem gehofft, dass das Gericht auch das Umfeld des NSU umfassend aufklären würde, insbesondere die Rolle der Sicherheitsbehörden. Vieles ist jedoch offen geblieben – und wird es vermutlich auch bleiben.
Was hat das Gericht bei der Strafzumessung berücksichtigt?
Interessant dürfte sein, wie das Münchner Gericht die Strafzumessung erläutert – nicht nur im Fall Eminger, sondern auch im Hinblick auf die anderen Angeklagten. Zwar können die Nebenkläger auf die Strafzumessung keinen Einfluss nehmen, eine Erläuterung wäre vielen Angehörigen aber wohl wichtig.
"Es ist für uns bis heute völlig unverständlich, aber bei der mündlichen Urteilsbegründung haben die Folgen der Taten, das heißt die Auswirkungen der Morde und Anschläge auf die Angehörigen und Überlebenden, keinerlei Erwähnung gefunden", so von der Behrens.
Zudem habe das Gericht sich nicht dazu geäußert, "welche schrecklichen Folgen für die Familie die Ermittlungen im Umkreis der Opfer hatte", so von der Behrens weiter. "Die Frage wird sein, ob und was hierzu in den schriftlichen Urteilsgründen stehen wird." Das Gefühl vieler Angehöriger, ihre Leiden seien vom Gericht übergangen worden, werde das aber wohl nicht ändern, glaubt die Anwältin.
Annelie Kaufmann, Urteilsbegründung im NSU-Prozess: . In: Legal Tribune Online, 21.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41369 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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