Gerichtssaal statt Tatort: Kein Orts­termin im Mord­fall Lübcke

von Dr. Felix W. Zimmermann

16.09.2020

Seit Wochen studieren die Richter im Lübcke-Prozess Pläne des Wohnhauses und befragen Zeugen. Warum machen sie nicht einfach mal einen Ortstermin?

Nachdem Stephan E. im August vor Gericht gestanden hat, den Kassler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke erschossen zu haben, dreht sich der Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt vor allem um eine Frage: Welche Rolle kommt dem mitangeklagten Markus H. zu?

Stephan E. behauptet, beide gemeinsam hätten die Tat geplant, Markus H. sei mit am Tatort gewesen. Der Generalbundesanwalt glaubt das nicht, er hat Markus H. nur wegen psychischer Beihilfe angeklagt. Und Markus H. selbst schweigt.

Um der Frage der Mittäterschaft des Markus H. nachzugehen, muss der Staatsschutzsenat um den Vorsitzenden Richter Thomas Sagebiel prüfen, wie plausibel die Erzählung von Stefan E. zu den angeblichen Laufwegen des Markus H. am Tatort ist. Seit Wochen studieren die Verfahrensbeteiligten im Gerichtssaal immer wieder Pläne des Wohnhauses der Familie Lübcke. Stundenlang werden potentielle Laufwege erörtert, sogar 3D-Animationen betrachtet und Zeugen zu den Örtlichkeiten befragt.

Muss man Akrobat sein, um über das Blumenbeet zu springen?

Doch auch nach dreimonatiger Verhandlung besteht über wichtige Fragen alles andere als Klarheit. Etwa bezüglich eines Blumenbeets, das Markus H. nach der Darstellung von E. angeblich passierte. Da sich darin keine Fußabdrücke fanden, kann E.s Aussage nur stimmen, wenn Markus H. das Beet übersprungen haben könnte.

Ein Polizeiführer sagte aus, hierzu müsse man Akrobat sein – Markus H. ist untersetzt und stämmig, kein Akrobat. Wenige Tage später sagte ein am Tatort eingesetzter Vermessungsingenieur aus, er – ebenfalls nicht Akrobat – könne ohne Probleme über das Beet springen. Wie wenig hier auf Schätzungen von Zeugen vertraut werden kann, zeigt sich auch an deren Zeitangaben. In wieviel Sekunden könnte die Strecke von der Straße zum genauen Tatort zurückgelegt werden? Von 10 bis 40 Sekunden reichen die Spannweiten in den Antworten.

Folgt man dem Unmittelbarkeitsgrundsatz müsste die Ortbesichtigung eigentlich die Regel sein. Schließlich bezweckt der Grundsatz, dass das Gericht einen möglichst direkten und unmittelbaren Eindruck des zu erforschenden Sachverhalts gewinnt.

Allerdings stellte der BGH schon in den 1980er Jahren klar: Wenn Fotos oder Plänen der Örtlichkeiten für die Wahrheitserforschung bereits die erforderlichen Erkenntnisse bringen und die Beteiligten keine abweichenden Merkmale behaupteten, müsse kein Ortstermin stattfinden (BGH NJW-RR 1987, 1237). Erst wenn es sich aufdränge, dass eine Besichtigung der Örtlichkeit zu weitergehenden Ergebnissen führen würde, gleichwohl unterlassen werde, sei der Untersuchungsgrundsatz des § 244 StPO verletzt (BGH NStZ 1981, 310).

Wenn dann alle: Richter, Verfahrensbeteiligte, Zuschauer, Medienvertreter

Wenn das Gericht eine Ortsbegehung durchführen will, kann es das in aller Regel tun. Kooperiert der Besitzer etwa einer Immobilie nicht, kann das Gericht die Beschlagnahme der Immobilie für die Beweiserhebung anordnen.

Das OLG Frankfurt hat allerdings keinen Ortstermin anberaumt und will dies auf Anfrage von LTO auch nicht begründen. Allgemein teilt die Pressestelle mit: In den letzten Jahren hätten die Staatsschutzsenate keine Ortsbesichtigung durchgeführt. Gerade in Staatsschutzverfahren sei zu prüfen ist, ob die gebotene Sicherheit außerhalb des Justizsaals gewährleistet werden könne.

Auch die Sprecherin der Neuen Richtervereinigung (NRV) Brigitte Kreuder-Sonnen betont, dass bei notwendigen Ortsterminen in solchen Fällen, der Sicherheitsaufwand besonders hoch sei – etwa zur Verhinderung einer Flucht oder Befreiung oder eines Anschlags.

Tatsächlich ist ein Ortstermin immer mit einem gewissen Aufwand verbunden. Keineswegs darf sich etwa eine Richterin einfach vor Ort begeben, um mal nachzusehen, was Sache ist. Derartige Erkenntnisse sind im Verfahren nicht verwertbar (OLG Hamburg, NJW 1952. 1271). Vielmehr muss das gesamte Gericht quasi zum Ort der Inaugenscheinnahme umziehen, alle Verfahrensbeteiligten müssen daran teilnehmen, grundsätzlich auch die Öffentlichkeit inklusive Medienvertreter. Informiert das Gericht über den Termin nicht hinreichend, liegt genauso ein reversibler Rechtsfehler vor, wie wenn der Angeklagte nicht mit vor Ort ist.

"Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss"?

Und es stellen sich weitere Probleme, die man mit der philosophischen Erkenntnis: "Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen" beschreiben könnte. Wetter, Lärmkulisse, Boden- und Lichtverhältnisse sind schwer reproduzierbar.

Darauf weist der Strafverteidiger Dr. Heribert Waider, stellvertretender Vorsitzender des Vereins Deutscher Strafverteidiger, hin: In über 20 Jahren Berufserfahrung habe er erst einmal eine Inaugenscheinnahme miterlebt, so Waider. Er beobachte auch, dass Richter eine Selbstbindung an die Realität scheuen würden. Findet eine Ortsbesichtigung statt, tragen nämlich die Richter die Verantwortung für fehlerhafte Angaben im Urteil und nicht die Zeugen, die im Gerichtsaal über die Beschaffenheit des Ortes Auskunft geben.

Jürgen Möthrath, Rechtsanwalt und Präsident des deutschen Strafverteidigerverbands, hat Ortsbesichtigungen ebenfalls nur selten erlebt. Kürzlich sei in einem Fall die Hauptverhandlung in ein Autohaus verlegt worden, um zu überprüfen, ob der Angeklagte aufgrund seiner Größe wirklich vom Fahrersitz eine bestimmte Handlung durchführen konnte. Gerade bei Haftsachen oder auch Verfahren mit vielen Beschuldigten scheuten die Gerichte aber den Aufwand, meint Möthrath.

Berühmte Ortstermine: Monika Weimar, Eva Maria Mariotti

Dr. Gerhard Strate – seit 41 Jahren Strafverteidiger – hält es dennoch für ein Gebot der Professionalität, Ortsbegehungen durchzuführen. Er habe wiederholt Prozesse erlebt, bei denen aufgrund einer Ortsbegehung die Sache gekippt sei, in die eine oder andere Richtung, erzählt er im Gespräch mit LTO. In einem seiner berühmtesten Verteidigungsfälle, der Vertretung von Monika Weimar, sei diese zum Nachteil seiner Mandantin verlaufen.

Monika Weimar wurde nach einem beispiellosen Prozessmarathon schließlich wegen Mordes an ihren beiden Kindern verurteilt. Ein Ortstermin führte damals bei Gericht zu der Feststellung, dass eine entlastende Aussage nicht zutreffen konnte. Denn vom Standort des Zeugen war der angeblich beobachtete Ort gar nicht einsehbar.

Auch ein anderer Ortstermin wurde geradezu berühmt: Der nach Überlieferungen geheimnisvollen Schönheit Eva Maria Mariotti wurde vorgeworfen Mittäterin eines Raubmordes an der wohlhabenden Witwe Moser zu sein. 1964 wurde sie zu lebenslangen Zuchthaus verurteilt, doch wegen eines Rechtsfehlers musste der Prozess 1965 erneut aufgerollt werden. Eine wichtige Rolle kam dabei einem Ortstermin in einer Wohnung zu. Ein Belastungszeuge hatte ausgesagt: Die Leiche sei dort einen Flur entlang geschleift worden.

Dagegen hielt das Landgericht (LG) Hamburg nach einem Ortstermin fest: "Das Kleid, das Frau Moser trug, war nicht zerrissen. Die Perlenkette war zwar beschädigt, enthielt aber noch alle Perlen. Wäre die Leiche, wie (der Zeuge) es schildert, rund 20 Meter bei zum Teil räumlich beengten Verhältnissen auf dem Bauch geschleift worden, so wären auffälligere Spuren zu erwarten." Am Ende stand der Freispruch für Eva Maria Mariotti.

Einen Freispruch kann Stephan E. nach seinem Geständnis aller Voraussicht nach nicht mehr erwarten. Doch die etwaige Tatbeteiligung der Markus H. ist weiter unklar. "Es geht hier um etwas", betont der Vorsitzende Richter Sagebiel im Lübcke-Prozess daher oft, etwa wenn er bereits ähnlich gestellte Fragen im Prozess noch einmal zulässt. In diesem Sinne sollte der Staatsschutzsenat auch den Aufwand eines Ortstermins nicht scheuen.

Zitiervorschlag

Felix W. Zimmermann, Gerichtssaal statt Tatort: . In: Legal Tribune Online, 16.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42810 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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