68 Jahre nach Einführung der Verfassungsbeschwerde zum BVerfG führt NRW zum 1. Januar 2019 die Individualverfassungsbeschwerde zum VerfGH NRW ein. Organisatorisch ist das Gericht für die neue Aufgabe nicht gewappnet, meint Robert Hotstegs.
Der Landtag in Düsseldorf hatte verschiedene Anläufe in mehreren Legislaturperioden benötigt, im Sommer 2018 war die Zeit dann reif. Durch Änderung des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen (VGHG NW) ergänzte das Parlament die Art der Verfahren um die Individualverfassungsbeschwerde. Gleichzeitig eröffnete es auch den elektronischen Rechtsverkehr zu dem Gericht, das bis dahin für Bürger weitestgehend unerreichbar war und dementsprechend eher unbekannt ist.
So wundert es nicht, dass die bisherigen Aufgaben des VerfGH NRW nun zur Jahreswende häufig als die eines Staatsgerichtshofes beschrieben werden. Wahlprüfungen, die Zulassung von Parteien zu Wahlen und Abstimmungen, Verletzungen der Rechte von Verfassungsorganen und Teilen der Organe, ebenso Verletzung der Rechte der Parteien und schließlich Verletzungen der Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden und Gemeindeverbände. Nur dieser Verfahrenskanon war bislang Bestandteil der Rechtsprechungsaufgabe des VerfGH. Im Kern handelte es sich dabei also um die Organisation und gerichtliche Überwachung und ggf. Korrektur des Innenrechts des Staates.
Antragsteller konnten allerdings in den allermeisten Verfahren eben nur diejenigen sein, die mit eigenen subjektiven Rechten aus der Verfassung ausgestattet waren: der Landtag, seine Fraktionen, die politischen Parteien (nicht aber die kommunalen Wählervereinigungen), die Städte und Gemeinden an Rhein und Weser.
Verfahren, die es auch jedem Bürger ermöglicht hätten, vor den VerfGH zu ziehen blieben bis Ende 2018 auf das Themengebiet der Wahlprüfung der Landtagswahl oder der Volksgesetzgebung durch Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid begrenzt. Beide Themenkomplexe kommen bereits statistisch kaum vor, NRW gilt nicht als Vorreiter auf dem Gebiet der direkten Demokratie auf Landesebene. Dementsprechend unbekannt ist das höchste Gericht des Landes, auch in seiner Doppelrolle als Verfassungsorgan wird es kaum wahrgenommen.
VerfGH verkleinerte Düsseldorf und nahm Köln die Millionen
Daran konnten in der Vergangenheit nur punktuell einzelne Verfahren etwas ändern. Etwa die Entscheidungen mit denen der VerfGH regelmäßig das Kommunalwahlrecht korrigierte und dem Gesetzgeber sowohl die Einführung von Sperrklauseln, von Ein-Sitz-Klauseln und schließlich sogar die Einführung einer Sperrklausel auf Verfassungsebene verbot. Ebenso war es berufen, die Wahlprüfungsbeschwerden der AfD und anderer zu entscheiden, die im letzten Jahr allesamt scheiterten (https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/afd-landtagswahl2017-wahlergebnis-wahlpruefungsbeschwerde-wahlfaelschung-nrw/).
In den 70er Jahren korrigierte der Gerichtshof vielfach die kommunale Neugliederung, so etwa die neue Stadt Bottrop, die unter dem Kunstnamen Glabotki gehandelt wurde und Gladbeck, Bottrop und Kirchhellen vereinte. Der VerfGH löst die neue Stadt Bottrop wieder auf (Urt. v. 6. 12. 1975, Az. 13/73) und wiederbelebte die aufgelösten Gemeinden, die aber ohne Selbstverwaltungsorgane dastanden. Ebenso stellte er die Stadt Meerbusch in ihren Grenzen wieder her, nachdem der Landtag diese zunächst auf Düsseldorf und Krefeld aufteilen wollte (Urt. v. 13. 09. 1975, Az. 43/74). Auch Monheim verdankt seine heutige Form der Rechtsprechung in Münster (Urt. v. 6. 12. 1975, Az. 39/74), ebenso die Stadt Wesseling, die sich erfolgreich der Fusion mit Köln entziehen konnte und der Domstadt damit den Status der Millionenstadt vorübergehend entzog.
Anschließend wurde es wieder ruhig. Die Verfahrenszahlen des VerfGH verblieben im zweistelligen Bereich. Eine Verfahrenszahl, die es ermöglichte das Gericht dauerhaft mit ehren- bzw. nebenamtlichen Richtern zu betreiben und ohne nennenswerte eigene Ausstattung zu betreiben. Der VerfGH bediente sich seit jeher der Geschäftseinrichtungen des OVG NRW, dessen Räumlichkeiten, dessen Infrastruktur, seines Personals und sogar – mangels eigener Sammlung - dessen amtlichen Entscheidungssammlung.
Jedermann-Beschwerderecht nach Münster oder Karlsruhe
Nun aber werden die Karten neu gemischt. Mit der Individualverfassungsbeschwerde als Jedermann-Recht besteht für jeden Bürger (natürliche wie – eingeschränkt – auch juristische Personen) die Möglichkeit die Verletzung in eigenen Rechten aus der Landesverfassung durch das Land Nordrhein-Westfalen zu rügen. Wie auch auf Bundesebene kommt hierbei sowohl die Rechtssatzverfassungsbeschwerde unmittelbar gegen Gesetze und andere Hoheitsakte in Betracht, sofern hiergegen kein fachgerichtlicher Rechtsschutz möglich ist. Daneben besteht aber vor allem auch die Möglichkeit Urteilsverfassungsbeschwerde einzureichen.
Die Beschwerden können mit der Behauptung erhoben werden, der Beschwerdeführer werde in seinen Rechten aus der Landesverfassung (LVerf) verletzt. Hiervon sind die Landesgrundrechte, die grundrechtsgleichen Rechte aus der Landesverfassung einerseits und die gem. Art. 2 LVerf NRW inkorporierten Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte des Grundgesetzes umfasst.
Wie in anderen Bundesländern auch besteht somit grundsätzlich die Wahlmöglichkeit die Verletzung von Grundrechten aus dem GG entweder als Verletzung von Rechten aus der Landesverfassung vor dem VerfGH geltend zu machen oder aber die Rechtsverletzung vor dem BVerfG in Karlsruhe zu rügen.
Diese Wahlmöglichkeit hat der Gesetzgeber bewusst vorgesehen. Denn er geht einerseits davon aus, dass die Individualverfassungsbeschwerde zur Entlastung des BVerfG beitragen könne, andererseits dass aber auch die "landeseigene" Rechtsprechung ihrerseits zur Schärfung der Grundrechte beitragen werde. Ein vollständig neues Rechtsgebiet tut sich damit auf, das bislang eher der Wissenschaft und Forschung vorbehalten war.
Neues Rechtsgebiet ohne Rechtsprechung – ein Abenteuer?
Wo Kommentatoren und Verfassungsrechtler sich bislang eine Meinung darüber bildeten, ob etwa der Verweis des Art. 2 LVerf auf die Grundrechte des GG statisch oder dynamisch zu verstehen sei oder die abstrakte Diskussion darüber geführt werden konnte, ob Art. 24 Abs. 2 LVerf neben dem Mindestlohngesetz und den Tarifverträgen noch einen eigenen Anwendungsbereich hat ("Der Lohn muß der Leistung entsprechen und den angemessenen Lebensbedarf des Arbeitenden und seiner Familie decken. Für gleiche Tätigkeit und gleiche Leistung besteht Anspruch auf gleichen Lohn. Das gilt auch für Frauen und Jugendliche."), klaffte bislang eine Rechtsprechungslücke.
Die Instanzgerichte des Landes nahmen nur selten auf die Regelungen der Landesverfassung unmittelbar Bezug, zu prägend war die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes, die an eben diese Landesverfassung nicht gebunden sind.
Das soll sich nun ändern. Der VerfGH wird mit seinen Entscheidungen über Individualverfassungsbeschwerden das Verfassungsrecht in seinen Vorschriften zu Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten fortan mit Leben füllen.
Kollisionen mit dem BVerfG sind sicherlich erst im Laufe der Zeit zu erwarten. Der Landesgesetzgeber hat die Verfassungsbeschwerde in NRW als subsidiär ausgestaltet. Sobald Verfassungsbeschwerde wegen des gleichen Streitgegenstandes auch in Karlsruhe erhoben wurde oder erhoben wird, wird die Verfassungsbeschwerde in Münster unzulässig. Eine nicht ganz ungefährliche Regelung für den Rechtsschutzsuchenden. Denn auf den Erfolg oder die Zulässigkeit der Bundesverfassungsbeschwerde kommt es nicht an. Auch das unzulässige Gesuch zum BVerfG macht eine ansonsten zulässige Verfassungsbeschwerde zum VerfGH zunichte.
Ist nun also zukünftig mit einer Fülle von Entscheidungen zu rechnen? Es wird einige Zeit benötigen, bis sich der außerordentliche Rechtsbehelf herumgesprochen und etabliert hat. Diese Zeit benötigt auch der VerfGH. Denn er ist organisatorisch derzeit schlecht ausgestattet. Auch zukünftig bleiben die Mitglieder des VerfGH ehren- bzw. nebenamtlich tätig. Sie können durch die Geschäftseinrichtungen des OVG NRW unterstützt werden, ebenso durch wissenschaftliche Mitarbeitende. Darüber hinaus ist eine leichte Aufstockung von Richterabordnungen aus den Fachgerichtsbarkeiten zum VerfGH vorgesehen.
Fortsetzung folgt: Geld, Personal, Verfassungsänderung
Darüber hinaus hat der Landtag dem Gerichtshof bislang noch keine Finanzmittel für weiteres Personal zur Verfügung gestellt, im Gesetzgebungsverfahren und im Rahmen der Haushaltsberatung 2019 war diese Frage zwar aufgeworfen worden, aber auch dem VerfGH selbst fehlte jeder Anhaltspunkt dafür mit wie vielen Verfahren nun zu rechnen sei.
Damit hat sich der Landtag selbst eine engmaschige Überwachungspflicht auferlegt. Denn er schuldet allein schon aus Respekt vor dem Verfassungsorgan VerfGH dessen ordnungsgemäße Ausstattung. Sie kann durch Finanzmittel, nichtrichterliches Personal und langfristig unter Umständen auch durch die Wahl hauptamtlicher Richter erfolgen. Anpassungen des VGHG NRW sind dabei am ehesten geeignet, den organisatorischen Rahmen fortzuentwickeln.
Als Krönung des Projektes sollte der Landtag wohl auch die Absicherung der Individualverfassungsbeschwerde in der Landesverfassung selbst vorsehen. Ein Blick auf die Bundesebene zeigt, dass die Verfassungsbeschwerde dort 18 Jahre alt werden musste, um nicht nur im BVerfGG, sondern auch in Art. 93 Abs.1 Nr. 4a GG Platz zu finden. Nach heutigem Verständnis erfolgte die Absicherung im GG also mit Erreichen der Volljährigkeit. Die Aufnahme in die Landesverfassung wäre dann also 2037 "fällig".
Der Autor Robert Hotstegs ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht in der Hotstegs Rechtsanwaltsgesellschaft, Düsseldorf. Er ist Lehrbeauftragter der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW und Autor des im Januar erscheinenden Handkommentars "Verfassungsbeschwerde.NRW" (ISBN 978-3-7481-5650-5).
NRW eröffnet Rechtsweg für Landesverfassungsbeschwerde: . In: Legal Tribune Online, 31.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32959 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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