Arbeitsgerichte sind keine Technikverweigerer, meint Arbeitsrichter Olaf Möllenkamp. Tatsächlich aber fehle die bundeseinheitliche Ausstattung der Justiz und der langfristige Plan des Gesetzgebers, virtuelle Güteverhandlungen durchzuführen.
In ihrem Beitrag "Ein Erfahrungsbericht aus Anwaltssicht" bemängeln die Anwälte Markus Hartung und Paul Krusenotto unzureichende technische Möglichkeiten und mangelnde Einstellung der Arbeitsgerichte in Bezug auf Videoverhandlungen. Tatsächlich dominieren Präsenzverhandlungen das arbeitsgerichtliche Verfahren. Hieran haben weder der bereits 2002 geschaffene § 128a Zivilprozessordnung (ZPO) noch der temporär im Zuge der Pandemie eingeführte § 114 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) etwas geändert. Videoverhandlungen sind bei allen Beteiligten seit jeher eher unbeliebt, auch wenn die Zahl der Anträge auf Durchführung einer Videoverhandlung sprunghaft gestiegen ist. Während es im Jahr 2019 nicht einen einzigen Antrag auf Videoverhandlung am Arbeitsgericht Lübeck gab, waren es im Pandemie-Jahr 2020 bereits rund zwanzig. Tendenz bereits Anfang Januar 2021: stark steigend.
Die Ernüchterung der Anwaltschaft auf das, was dann auf gerichtlicher Seite meist im Rahmen einer Ablehnung passiert, ist teilweise nachvollziehbar und wird von Hartung/Krusenotto anhand von besonders bedrückenden Beispielen plakativ dargestellt. Allerdings gehören zum Gelingen gerade von technischen Projekten immer zwei – Gericht und Anwaltschaft.
Beschleunigte Technisierung nicht für Videoverhandlungen
Die Arbeitsgerichtsbarkeit ist das Schnellboot der Justiz. Kurze Verfahrensdauer, frühe Güteverhandlung, hohe Einigungsquoten. Auch die Technisierung kommt seit Jahren gut voran: elektronische Aktenführung und elektronischer Rechtsverkehr (ERV) haben als Großprojekte Verfahren und Arbeitsweise weiter beschleunigt und tragen zu einem weitgehend reibungslosen und flexiblen Ablauf bei.
Gerade im Rahmen der Technisierungsprojekte lag der Fokus jedoch mangels Nachfrage aus der Anwaltschaft nicht auf der Ausstattung bzw. Qualifizierung für Videoverhandlungen, sondern bei eAkte und ERV. Die Ressourcen sind hierbei begrenzt. Weil der Steuerzahler die Rechnung trägt, werden die Projekte in der Regel aus der Justiz selbst getragen, oft über abgeordnete Richterinnen und Richter. Externe Projektierungen sind aufgrund der Konkurrenz zur ebenfalls beschleunigt digitalisierenden Wirtschaft meist extrem teuer und daher die Ausnahme.
Die Pandemie musste die Arbeitsgerichtsbarkeit im Punkt Digitalisierung nicht aus dem Tiefschlaf holen, der Zug hatte längst Fahrt aufgenommen. In dieser Phase einer durchaus produktiven Technisierung, nur mit anderen Schwerpunkten, fiel und fällt es schwer, die weitere Aufgabe Videokonferenzen aus dem Stand zu schultern. Sie war vor Corona schlicht nicht Thema. Sicherlich war auch der Wunsch und die Hoffnung, die Pandemie könne schon im Sommer 2020 vorüber sein, kein Antreiber, den bisherigen Ladenhüter Videoverhandlung nun plötzlich beschleunigt voran zu bringen. Der Vorwurf, die Arbeitsgerichtsbarkeit habe hier einen naheliegenden Bedarf schlicht übersehen, trifft allerdings nichts zu. Justiz gibt kein Geld für Normen aus, die niemand nutzt.
Technikferne Richterinnen und Richter sind legendär, aber längst nicht mehr die Regel. Die Verjüngung der Justiz hat in den vergangenen Jahren zum Einzug der „Digital Natives“ geführt, die neuen Wegen durchaus offen gegenüberstehen, wenn die Gerichtsverwaltung die notwendige Technik bereitstellt.
Fehlende Standards und beiderseitiges Unvermögen
Hardware ist das eine, die Konferenzsoftware das andere. Weil § 128a ZPO keine Standards vorgibt und auch keine Verordnungsermächtigung für weitergehende Vereinheitlichungen existiert, gibt es auch keine homogenen Plattformlösungen. Die Norm ermöglicht vielmehr einen Wildwuchs an Insellösungen je nach Bundesland, im schlimmsten Fall nach Gericht.
Weil die Bundesländer hier nicht zur Kooperation neigen, gibt es kaum einheitliche Software. Dies wiederum kann zu Schwierigkeiten auf Anwaltsseite führen, sich das Knowhow für unterschiedliche Systeme anzueignen. Oft hat man von der jeweiligen Lösung eines Bundeslandes - sofern vorhanden - noch nichts gehört. Wer bereits (wo auch immer) an Videokonferenzen teilgenommen hat, kennt die Teilnehmer, die das System nicht beherrschen und damit auch zum Gelingen nichts beitragen können. Für Videoverhandlungen vor dem Arbeitsgericht gilt nichts anderes.
Scheitern können Online-Verhandlungen zudem in Kollision zu technischen Sicherungssystemen auf Anwaltsseite. Zu scharf eingestellt Firewalls, gesperrte Ports und Virenscanner blockieren häufig die jeweilige Software. Die Lösung solch technischer Probleme ist nicht Aufgabe des Gerichts, was von Anwaltsseite gelegentlich anders gesehen wird.
Der Wunsch aus der Anwaltschaft, mit einer Videoverhandlungen den Weg zum Gericht – zumal in Zeiten von Lockdowns und intensivem Pandemiegeschehen – nicht antreten zu müssen, korrespondiert leider oft nicht mit der Fähigkeit, Online-Sitzungen auch unfallfrei durchführen zu können. Der Antrag nach § 128a ZPO mag schnell gestellt sein. Wenn in der Folge die E-Mail des Gerichts mit dem Zugangscode zur Sitzung im Spam-Filter des Anwaltsbüros hängen bleibt, liegt die Verantwortung jedoch nicht beim Gericht. Auch potenziell unüberblickbare Fehlermöglichkeiten bei Nutzung der Technik mögen beiderseits nicht nur zu gelegentlichem Unmut, sondern manchmal zur Resignation führen.
Entwertung der Güteverhandlung durch Online-Sitzungen?
Die im arbeitsgerichtlichen Verfahren obligatorische Güteverhandlung bietet beiden Parteien die einmalige Gelegenheit, den Rechtsstreit zügig ohne Urteil zu erledigen. Hierfür bedarf es neben dem Willen zur Einigung auch etwas Geschick und letztlich Verhandlungsatmosphäre.
Videoverhandlungen fördern diese Spezialität des arbeitsgerichtlichen Verfahrens nur bedingt. Gerade wenn technische Beeinträchtigungen wie Rückkopplungen, Leitungsverzögerungen oder sonstige Unzulänglichkeiten, die immer noch häufig vorkommen, hinzutreten. Auch atmosphärische Störungen zwischen den ohnehin schon im Streit befindlichen Parteien lassen sich online nur eingeschränkt glätten. Technikbegeisterung und die Freude über die ersparte Anfahrt wird sich nicht immer in Vergleichsbereitschaft ummünzen lassen.
Wenn Richterinnen und Richter sich vielleicht intuitiv eher zurückhaltend gegenüber diesem Format der Verhandlung zeigen, mag nicht nur die Sorge um die Vergleichsquote, sondern auch über den nicht erfolgreichen Vollzug des gesetzlichen Auftrags um das Bemühen um eine Einigung im Raume stehen. Im Vordergrund steht der Vergleich, nicht die zwingende Nutzung von Technik, nur weil die Norm ihre Nutzung ermöglicht.
Natürlich kann die Güteverhandlung im Online-Format entlastend wirken, wenn eine Einigung ohnehin nicht gewünscht ist und sie bloß abgehakt werden soll. Dies ist allerdings nicht der Regelfall.
Künftig wieder Präsenz im Sitzungssaal
Die Pandemie wird vorübergehen, § 128a ZPO wird bleiben. Der Gesetzgeber hat mit der Befristung des § 114 ZPO allerdings bereits angedeutet, wie er sich Verhandlungen in Zukunft eher wieder vorstellt, nämlich zumindest für den Kammertermin in Präsenz einschließlich der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter im Sitzungssaal. Hierin liegt kein Bekenntnis zum technischen Fortschritt. Dass bei dieser Grundhaltung Investitionsentscheidungen für Konferenztechnik nicht getroffen werden, verwundert nicht.
Die Forderung aus der Anwaltschaft, Videoverhandlungen zum festen Bestandteil des gerichtlichen Leistungsangebots auch nach der Pandemie zu machen, muss lauter vorgetragen werden. Der Verweis auf Fälle, in denen technikferne und bequeme Richterinnen und Richter versagt haben, ist unterhaltsam, hilft aber nur begrenzt. Der Gesetzgeber sollte durch eine Überarbeitung der Vorschriften zu einer technischen Standardisierung wie etwa auch im elektronischen Rechtsverkehr beitragen. Dann lohnt sich auch für die Hersteller von Anwaltssoftware die Integration von Konferenzlösungen in deren Produkte.
Der Autor Olaf Möllenkamp ist Richter am Arbeitsgericht Lübeck.
Arbeitsgerichtliche Videoverhandlungen in der Pandemie: . In: Legal Tribune Online, 12.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43962 (abgerufen am: 18.11.2024 )
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