Die deutschen Staatsanwaltschaften dürfen keinen Europäischen Haftbefehl mehr ausstellen. Das BMJV sieht vorerst keinen Bedarf für Gesetzesänderungen. In der Praxis führt das aber zu vielen Unsicherheiten.
Die deutschen Staatsanwaltschaften dürfen seit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) keinen Europäischen Haftbefehl (EuHB) mehr ausstellen, weil sie nicht strikt unabhängig organisiert sind. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) hat sich schnell auf den Standpunkt gestellt, dass eine Gesetzesänderung jedenfalls nicht notwendig ist, um das Urteil umzusetzen.
Man habe unmittelbar nach der Entscheidung des EuGH in einem Rundschreiben an die Länder darauf hingewiesen, dass der EuHB künftig durch einen Richter ausgestellt werden müsse, so ein Sprecher des BMJV gegenüber LTO. Das sei schon nach der aktuellen Rechtslage möglich, da § 77 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) auf die Strafprozessordnung (StPO) verweise und gem. § 131 StPO ein Richter oder ein Staatsanwalt die Ausschreibung zur Festnahme veranlassen kann. Ob darüber hinaus eine gesetzliche Klarstellung erforderlich sei, werde derzeit geprüft.
Nach Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft Celle, die die Arbeit der deutschen Generalstaatsanwaltschaften zum Europäischen Haftbefehl koordiniert, bestehen aber durchaus noch offene Fragen. So sei nicht abschließend geklärt, welcher Richter in welchem Fall zuständig ist. Letztlich bleibe abzuwarten, wie die Gerichte mit entsprechenden Anträgen der Staatsanwaltschaften umgehen.
BMJV bittet Mitgliedstaaten bestehende EuHB vorläufig zu akzeptieren
Problematischer sind die Fälle, in denen ein offener EuHB besteht, der noch von einer deutschen Staatsanwaltschaft ausgestellt wurde. Das BMJV hat alle EU-Mitgliedstaaten gebeten, in solchen Fällen den staatsanwaltlichen EuHB als Grundlage für eine vorläufige Inhaftnahme zu akzeptieren und die deutschen Behörden zu kontaktieren. Das geht aus einem Schreiben des BMJV an das Generalsekretariat des EU-Rats hervor. Innerhalb einer kurzen Frist soll dann ein richterlicher EuHB übermittelt werden. Das BMJV betont dabei, dass der Staatsanwalt, nicht das Gericht kontaktiert werden solle, nur der Staatsanwalt könne kurzfristig reagieren. Die Kontaktdaten der Staatsanwaltschaft sollen weiterhin im EuHB-Formular – zusätzlich zum ausstellenden Gericht – angegeben werden.
Es habe bereits einige Fälle gegeben, in denen gesuchte Personen nicht festgenommen oder aus der Haft entlassen worden sind, heißt es in dem Schreiben weiter. Das BMJV betont, nach seiner Rechtsauffassung sei ein staatsanwaltlicher EuHB zwar fehlerhaft, aber nicht unwirksam. Er könne deshalb vorläufig als Grundlage für eine Festnahme dienen und durch einen richterlichen EuHB ersetzt werden. Letztlich müssen aber die zuständigen Stellen des jeweiligen EU-Mitgliedstaates entscheiden, wie sie mit diesen Fällen umgehen.
Das BMJV geht davon aus, dass es mehrere Wochen dauern dürfte, die mehr als 5.000 offenen staatsanwaltlichen EuHB zu ersetzen. Die Staatsanwaltschaften und Gerichte priorisieren dabei dringliche und besonders schwere Fälle.
OLG München: EuHB wirkt sich nicht auf Fortdauer der Untersuchungshaft aus
Unklar ist auch, ob die Entscheidung des EuGH Auswirkungen auf laufende Strafverfahren haben kann. Das Oberlandesgericht (OLG) München hat sich bereits mit dieser Frage befasst, (OLG München, Beschl. v. 13.06.2019, Az.: 2 Ws 587/19).
In dem Fall geht es um einen bulgarischen Angeklagten, der seit August vergangenen Jahres in München in Untersuchungshaft sitzt. Er stützte seine Haftbeschwerde unter anderem darauf, dass er aufgrund eines staatsanwaltlichen EuHB nach Deutschland überstellt wurde.
Das Gericht lehnte das allerdings ab: Grundlage der Untersuchungshaft sei der nationale Haftbefehl des Amtsgerichts (AG) München, nicht der von der Staatsanwaltschaft ausgestellte EuHB. Es bestehe auch kein Hindernis, diesen Haftbefehl des AG München zu vollziehen, denn die bulgarischen Behörden hätten die Auslieferung rechtskräftig bewilligt. Das sei allein Sache der bulgarischen Justiz, die deutschen Gerichte müssten nicht überprüfen, ob diese Entscheidung möglicherweise fehlerhaft sei.
Andere EU-Staaten betonen Unabhängigkeit ihrer Staatsanwaltschaften
Die EuGH-Entscheidung wird nicht nur in Deutschland aufmerksam verfolgt, sondern auch in anderen EU-Staaten. Es ist EU-weit gängige Praxis, dass der EuHB von der Staatsanwaltschaft ausgestellt wird.
Allerdings beeilten sich zahlreiche Mitgliedstaaten gegenüber dem Generalsekretariat des EU-Rats darauf hinzuweisen, dass ihre Staatsanwaltschaften unabhängig organisiert seien und deshalb nicht von der Entscheidung des EuGH betroffen – so etwa Italien, Schweden, Finnland, Bulgarien, Kroatien und Spanien. In Dänemark und in Österreich kann der Justizminister allerdings ähnlich wie in Deutschland Weisungen gegenüber der Staatsanwaltschaft erteilen.
Beide Länder gehen dennoch bisher davon aus, nicht von der EuGH-Entscheidung betroffen zu sein: Dänemark erklärte, Weisungen seien in Bezug auf den Europäischen Haftbefehl ausgeschlossen, Österreich wies darauf hin, dass der EuHB zwar von der Staatsanwaltschaft ausgestellt, aber von einem Gericht autorisiert werde. Ob diese Konstruktionen die Luxemburger Richter überzeugen können, falls ihnen entsprechende Fälle vorgelegt werden, bleibt abzuwarten.
Die Entscheidung des EuGH ist aber stark auf das deutsche System zugeschnitten. Zweifel am Gesamtsystem des EuHB haben die Luxemburger Richter wohl nicht.
Die EU-weite Sicherung von Beweisen folgt einem ähnlichen Muster
Dass der EuGH die deutschen Staatsanwaltschaften nicht als unabhängige Justizbehörden anerkennt, könnte sich jedoch auch auf andere Bereiche auswirken, in denen es um den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen geht. Das gilt etwa für die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA), die es den Justizbehörden erleichtern soll, in anderen EU-Mitgliedstaaten Beweise zu sichern.
Der EuGH hat sich in seiner Entscheidung zwar lediglich mit dem EuHB befasst und ist auf andere Instrumente der gegenseitigen Anerkennung nicht eingegangen. Es sei allerdings "nicht zu verkennen", dass auch andere Instrumente demselben Muster folgten, erklärt die Generalstaatsanwaltschaft Celle gegenüber LTO: "Auch eine EEA wird von einer Staatsanwaltschaft erlassen, bei invasiven Maßnahmen (etwa Hausdurchsuchung, Beschlagnahme oder Telekommunikationsüberwachung) allerdings erst nach einer gerichtlichen Entscheidung, die diese Maßnahmen nach deutschem Strafprozessrecht erst ermöglicht."
Insoweit blieben weitere mögliche Entscheidungen des EuGH abzuwarten. Nicht ganz auszuschließen sei außerdem, dass Gerichte die EuGH-Entscheidung auch auf andere Instrumente der gegenseitigen Anerkennung ausdehnen, ohne diese Frage dem EuGH vorzulegen.
Berufsverbände fordern grundlegende Reformen
Die deutschen Staatsanwaltschaften bewegen sich also seit der EuGH-Entscheidung auf dünnem Eis. Die Berufsverbände der Richter und Staatsanwälte fordern ohnehin schon seit langem grundlegende Reformen.
Der Vorsitzende des Deutsche Richterbunds (DRB), Jens Gnisa, nahm die EuGH-Entscheidung einmal mehr zum Anlass, die Weisungsbefugnis der Justizminister im Einzelfall abzuschaffen. Schon 2015 hat der DRB einen Muster-Entwurf zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes vorgelegt. Demnach soll insbesondere § 147 GVG so gestaltet werden, dass die Befugnis der Justizverwaltungen, Weisungen zu Sachbehandlungen in Einzelfällen zu erteilen, ausgeschlossen wird. Zugleich soll die Justizverwaltung die Möglichkeit haben, ein Klageerzwingungsverfahren durchzuführen.
Auch Carsten Löbbert, Sprecher des Bundesvorstandes der Neuen Richtervereinigung (NRV), hatte nach der EuGH-Entscheidung eine grundlegende Reform gefordert. Die NRV hält ebenfalls eine Abschaffung des externen Weisungsrechts für erforderlich. Zugleich erfordere es ein grundsätzliches Umdenken, die Staatsanwaltschaft genauso unabhängig zu konzipieren wie die Gerichte.
Nach der EuGH-Entscheidung zum Europäischen Haftbefehl: . In: Legal Tribune Online, 04.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36273 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag