EuGH-Urteil hat Auswirkungen auf Deutschland: Immer wieder Ärger mit dem Euro­päi­schen Haft­be­fehl

von Annelie Kaufmann

30.11.2020

Ein EuGH-Urteil zur niederländischen Staatsanwaltschaft sorgt für Unruhe in der deutschen Justiz: Auch hier sind die Staatsanwaltschaften an Weisungen gebunden. Nun braucht es neue Regeln für die Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen.

Eigentlich soll der Europäische Haftbefehl (EuHB) ein schnelles und unkompliziertes Verfahren ermöglichen, sodass etwa ein Tatverdächtiger in einem EU-Mitgliedstaat festgenommen und an die Behörden in einem anderen EU-Mitgliedstaat übergeben werden kann.

Das System beruht darauf, dass die EU-Mitglieder die Entscheidungen ihrer Justizbehörden untereinander anerkennen. Doch das funktioniert nicht so reibungslos wie gedacht. Die Justizsysteme der EU-Mitgliedstaaten sind zu unterschiedlich, schon der Begriff "Justizbehörde" ist umstritten. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die klären sollen, was eine Justizbehörde überhaupt ist und welche Justizbehörden zu welchen Handlungen befugt sind.

In den meisten Ländern sind die Staatsanwaltschaften strikt unabhängig organisiert, weshalb der EuGH sie unproblematisch als Justizbehörde anerkennt, auch ein bloß allgemeines Weisungsrecht ihr gegenüber schadet nicht. Die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte können deshalb ohne weiteres einen EuHB ausstellen oder bestimmte Handlungen im Rahmen der Vollstreckung eines solchen vornehmen.

Deutsche wie niederländische Staatsanwälte sind nicht unabhängig

In Deutschland unterliegt die Staatsanwaltschaft jedoch den Weisungen der Justizministerien auch in konkreten Einzelfällen. Weisungen in Einzelfällen sind zwar selten, aber sie kommen vor. So aber stellt sich der EuGH eine "Justizbehörde" nicht vor

Ein ähnliches System haben Dänemark, Österreich und die Niederlande. Und deshalb hat das Bundesjustizministerium ein Verfahren vor dem EuGH intensiv beobachtet, das die niederländische Staatsanwaltschaft betraf – zu Recht, wie sich nun zeigt. Die Entscheidung des EuGH führt dazu, dass auch die deutschen Justizbehörden ihre bisherige Praxis ändern müssen.

In dem Verfahren vor dem EuGH ging es um einen Belgier, der im Dezember 2017 in den Niederlanden festgenommen und an die belgischen Behörden übergeben worden war, vorgeworfen wurden ihm Urkundenfälschung, Verwendung gefälschter Urkunden und Betrug.

Die belgische Justiz wollte den Mann jedoch nicht nur wegen der im EuHB genannten Handlungen anklagen, sondern auch wegen weiterer Straftaten. In solchen Fällen müssen die Behörden des Staates, die den Tatverdächtigen festgenommen haben, zustimmen - das sieht der sogenannte Grundsatz der Spezialität vor. Ein belgischer Ermittlungsrichter erließ deshalb einen ergänzenden EuHB und bat die niederländischen Behörden um Zustimmung. Diese Zustimmung erteilte ein niederländischer Staatsanwalt.

Nun entschied der EuGH: Der niederländische Staatsanwalt durfte diese Zustimmung gar nicht erteilen. Da die niederländische Staatsanwaltschaft weisungsabhängig ist, könne sie keine "vollstreckende Justizbehörde" im Sinne des EU-Rahmenbeschlusses sein (Urt. v. 24.11.2020, Az. C-510/19).

Im vereinfachten Verfahren muss künftig ein Gericht entscheiden

Der Fall lässt sich zwar nicht unmittelbar auf Deutschland übertragen, hat aber dennoch Auswirkungen. Normalerweise sind in Deutschland sowohl die Generalstaatsanwaltschaft (GenStA) als auch das Oberlandesgericht (OLG) an der Auslieferung beteiligt. Das gilt auch, wenn es – wie in dem niederländischen Fall – um die Ausweitung der Strafverfolgung geht.

Anders ist es, wenn die auszuliefernde Person der Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat zustimmt. In diesen sogenannten vereinfachten Verfahren entscheidet bisher in aller Regel allein die GenStA. Das dürfte nach der EuGH-Entscheidung jedoch unzulässig sein. Die GenStA Celle, die die Arbeit der deutschen Generalstaatsanwaltschaften zum EuHB koordiniert, geht davon aus, dass in diesen Fällen künftig ebenfalls das OLG eingeschaltet werden muss. Zumindest "provisorisch" sei so ein rahmenbeschlusskonformes Verfahren möglich, erklärte ein Sprecher gegenüber LTO.

Das sieht auch das BMJV so, das auf Anfrage von LTO erklärt: Die Vorschriften zum vereinfachten Verfahren seien "im Lichte des EuGH-Urteils künftig so auszulegen, dass auch in diesen Fällen eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen ist".

Unklar ist noch, welche Folgen die EuGH-Entscheidung darüber hinaus hat. Das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) sieht grundsätzlich ein zweistufiges Verfahren vor, bei dem das OLG über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidet, die GenStA über die Bewilligung. Diese Bewilligung wird wiederum vom OLG auf Ermessensfehler überprüft, wobei der GenStA bisher ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt wurde. Die GenStA Celle geht davon aus, dass künftig eine vollständige gerichtliche Überprüfung der Bewilligungsentscheidung erforderlich sein könnte. Das BMJV will das Urteil des EuGH in dem niederländischen Fall zunächst gründlich prüfen.

Der auf Auslieferungsrecht spezialisierte Berliner Rechtsanwalt Kai Peters sieht zwar ebenfalls Handlungsbedarf, hält eine vollständige gerichtliche Überprüfung der Bewilligungsentscheidung der Staatsanwaltschaft aber nicht für die richtige Lösung: "Das wäre mit Blick auf das Gewaltenteilungsprinzip problematisch, denn das Gericht würde in diesem Fall sein Ermessen an Stelle desjenigen der Behörde setzen", so Peters. "Hier scheinen definitiv noch nicht alle Fragen geklärt zu sein."

Kommt jetzt das Gesetz, das die die Praxis seit langem fordert?

Zumal die aktuelle Entscheidung nur die neueste in einer ganzen Reihe ist: So erklärten die Luxemburger Richter schon im Mai 2019, dass die deutsche Staatsanwaltschaft keine europäischen Haftbefehle ausstellen darf. Seitdem muss jeder EuHB von einem Richter unterzeichnet werden, rund 5.000 Haftbefehle mussten ersetzt werden, weil sie den Anforderungen des EuGH nicht entsprachen. Diese Rechtsprechung zur "ausstellenden Justizbehörde" überträgt der EuGH nun auf die "vollstreckende Justizbehörde" und stellt damit nochmals klar: Eine Justizbehörde ist in seinen Augen in aller Regel ein Gericht oder eine strikt unabhängig organisierte Staatsanwaltschaft.

Nun sieht auch das BMJV Handlungsbedarf: "Mittelfristig könnte die Rechtsprechung des EuGH gesetzgeberischen Handlungsbedarf auslösen, um eine klare Regelung zu schaffen", so ein Sprecher gegenüber LTO. Zunächst wolle man noch in dieser Woche im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft mit den anderen Mitgliedstaaten über die Auswirkung der Entscheidung sprechen.

In Deutschland sind im Jahr 2019 nach Angaben des BMJV 1481 EuHB eingegangen, in 608 Fällen stimmte die verfolgte Person der Überstellung zu, sodass ein vereinfachtes Verfahren durchgeführt werden konnte. Solche Verfahren dauerten im Schnitt 20,85 Tage, normale Verfahren ohne Zustimmungserklärung dauerten 45,85 Tage. Wenn die Gerichte nun umfassender prüfen müssen, werden die EuHB-Fälle also auch länger dauern.

Die GenStA Celle hält eine Gesetzesänderung für erforderlich, "die entweder die Entscheidung über die Auslieferung vollständig einem Gericht überträgt oder die (General-)Staatsanwaltschaft – jedenfalls insoweit – unabhängig von Weisungen der Exekutive stellt, was durch eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) möglich wäre."

In der Justiz wird seit langem über eine vollständige Abschaffung des Weisungsrechts diskutiert. Dass es dazu in absehbarer Zeit kommt, ist unwahrscheinlich. Denkbar wäre aber eine speziell auf den EuHB zugeschnittene Lösung, die der Staatsanwaltschaft wieder mehr Handlungsspielraum lässt. Mit Blick auf den EuGH muss sich der Gesetzgeber jedenfalls etwas einfallen lassen. Denn von einer weisungsabhängigen Justiz hält man in Luxemburg schlicht nicht viel.

Zitiervorschlag

EuGH-Urteil hat Auswirkungen auf Deutschland: . In: Legal Tribune Online, 30.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43575 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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