Zum ersten Mal hat die EU-Kommission europaweit die Rechtsstaatlichkeit untersucht. Deutschland bescheinigt sie eine leitungsstarke Justiz, Kritik an ihr fällt sehr diplomatisch aus. Deutlicher wird der Bericht zu Ungarn und Polen.
Deutschland kommt gut weg in dem rund 30 Seiten langen Gesamtbericht der EU-Kommission zur Lage der Rechtstaatlichkeit in Europa. Zum ersten Mal hat die Kommission eine solche europaweite Analyse angefertigt, von manchen schon – sehr deutsch - als "Rechtstaats-TÜV" bezeichnet.
Insgesamt sieht der Bericht ein "hohes Niveau" bei der Rechtsstaatlichkeit in Europa, verzeichnet aber auch "wichtige Herausforderungen" in einigen Staaten. Untersucht wurden vier Säulen, die Rechtsstaatlichkeit aus Sicht der Kommission ausmachen: Die Justizsysteme, Vorkehrungen gegen Korruption, Freiheit und Vielfalt von Medien und eine robuste Gewaltenteilung. Dazu hatte sich die EU auf eigene Berichte und Quellen verlassen, aber zum Beispiel auch Justizverbände vor Ort befragt.
Wenn es in Deutschland Sorgen auf in einem dieser Bereiche gibt, dann am ehesten beim Justizsystem. Schuld an der Aufmerksamkeit ist die recht eigenwillige Konstruktion der Unabhängigkeit von Staatsanwälten und ihrer Einbindung in die Verwaltung. Zentral geht es um das Weisungsrecht des Justizministers an die Staatsanwaltschaft. Ein Risiko für politischen Missbrauch?
Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft in Deutschland ein "Diskussionsthema"
Aber auch bei diesem Thema schneidet das deutsche System nicht schlecht ab. Im Bericht heißt es harmonisch: "Das Recht der Exekutive, der Staatsanwaltschaft formelle Anweisungen zu erteilen, auch in einzelnen Fällen, ist in manchen Mitgliedstaaten wie Deutschland und Österreich, ein besonderes Diskussionsthema." Und so wird dann noch auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof (EuGH) aus dem Mai 2019 verwiesen. Die Luxemburger Richter hatten damals entschieden, dass die deutschen Staatsanwaltschaften keine hinreichende Gewähr für die Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive bieten, um zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls befugt zu sein - auch wenn es sich aus Sicht der EuGH eher um ein Restrisiko handeln dürfte.
Der EU-Bericht macht zur Frage der Unabhängigkeit der deutschen Staatsanwaltschaften aber auch keine konkreten Vorgaben zu einer möglichen Verbesserung. Zwar gebe es, so der Bericht, kein einheitliches Vorbild-Modell in der EU für die Strukturen bei der Staatsanwaltschaft oder für die Ernennung, Entlassung oder für Disziplinarverfahren für Staatsanwälte, "doch können institutionelle Garantien dazu beitragen, dass die Strafverfolgung ausreichend unabhängig und ohne unzulässigen politischen Druck tätig sein kann."
Bezug nimmt der Bericht auf einen Reformvorstoß der FDP-Fraktion im Bundestag, der allerdings im Mai 2020 abgelehnt wurde. Das wird offenbar als guter Wille aus der Opposition verbucht. Auch zeigt sich die Kommission beruhigt von rechtlichen Einhegungen des Weisungsrechts. Letztlich hätten ein Länderbesuch und Rückmeldungen aus Deutschland z.B. von der Bundesrechtsanwaltskammer ergeben, dass nur in sehr wenigen Ausnahmefällen vom Weisungsrecht Gebrauch gemacht werde. Die Missbrauchsgefahr sei deshalb eher als gering einzuschätzen.
Klare Ansagen zur deutschen Justiz von Vize-Kommissionspräsidentin
Deutlicher war da noch die Vize-Präsidentin der EU-Kommission und Ex-Justiz-Kommissarin Věra Jourová mit Aussagen zur deutschen Justiz im Vorfeld der Veröffentlichung geworden. In einem Interview mit dem Spiegel sagte sie zur Ausgestaltung der Unabhängigkeit deutscher Staatsanwälte: "Das ist ein klarer Schwachpunkt. Justizminister sind nun mal Politiker, deshalb ist die Versuchung für sie groß, politischen Einfluss auszuüben." Der Deutsche Richterbund (DRB) hatte diese Aussagen zum Anlass genommen, einmal mehr eine Umgestaltung der deutschen Justizstruktur hin zu mehr Unabhängigkeit für diese zu fordern.
Auch zur EZB-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) fand Jourová deutliche Worte. Die Karlsruher Richter hatten mit ihrem Urteil im Mai 2020 die Prüfung und Entscheidung ihrer EuGH-Kollegen anlässlich der Anleihenkäufen in Frage gestellt. Dazu sagte Jourová dem Spiegel: "Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts kann so nicht stehen bleiben. Wenn wir es einfach so akzeptierten, wäre das Wasser auf die Mühlen der Regierenden in Ungarn oder Polen. Die Folgen für die EU könnten zerstörerisch sein."
Zu der BVerfG-Entscheidung findet sich in dem am Mittwoch veröffentlichten Bericht nur ein kurzer Hinweis*: "Das kürzlich ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 202076 hat jedoch Bedenken hinsichtlich des Umfangs seiner verfassungsrechtlichen Kontrolle gegenüber der Rechtsordnung der Europäischen Union aufgeworfen." Lobende Erwähnung findet allerdings der "Pakt für den Rechtsstaat" - ein rechtspolitisches Projekt, das in Deutschland nicht von den Ländern uneingeschränkt als Erfolgsprojekt gefeiert wurde.
Bei der Digitalisierung der Justiz sieht die Kommission Deutschland auf dem Weg, sie bleibe aber eine Langzeitherausforderung. Auch heißt es in dem Bericht lobend: "In Deutschland tragen regelmäßige Debatten, landesweite Informations- und Anzeigenkampagnen sowie Publikationen zu rechtsstaatlichen Themen dazu bei, eine dynamische Kultur der Rechtsstaatlichkeit zu fördern."
BMJV will prüfen, FDP-Innenpolitiker sieht "blamables Zeugnis"
Das deutsche Justizsystem sei in der Regel leistungsfähig, heißt es in der Zusammenfassung zur Bundesrepublik – "obwohl einige Anzeichen zuletzt auf eine Abnahme der Gesamt-Leistungsfähigkeit hingedeutet haben". Minuspunkte von der EU gibt es für die zunehmende Länge der Prozesse in der ersten Instanz.
Erste Reaktionen auf den Bericht trafen noch am Mittwoch aus Deutschland ein. Eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums (BMJV) erklärte, die Anmerkungen der EU-Kommission würden nun geprüft, auch gemeinsam mit den Landesjustizministern.
Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des DRB, betonte mit Blick auf das Weisungsrecht von Justizministern, dass auch die polnische Regierung dies "zur Rechtfertigung ihrer Eingriffe in die Justiz" missbrauche. "Der Vergleich ist zwar grob falsch, bringt die Bundesregierung aber in eine Rechtfertigungsposition." Der Innenexperte der Liberalen im EU-Parlament, Moritz Körner (FDP), sprach von einem "blamablen Zeugnis".
Gemeint sind dann doch vor allem Ungarn und Polen
Der Bericht hat es sich zum erklärten Ziel gemacht, europaweit alle europäischen Staaten einer Rechtsstaatsprüfung zu unterziehen. Die Botschaft: Die EU-Kommission schaut nicht nur auf die ohnehin angezählten Staaten wie Polen oder Ungarn. Zu denen finden sich im Bericht aber die mit Abstand sorgenvollsten Aussagen.
Insbesondere stehe in Ungarn der sogenannte "unabhängige Landesrichterrat vor Herausforderungen, ein Gegengewicht zu den Befugnissen des Präsidenten des Landesgerichtsamts, der für die Verwaltung der Gerichte zuständig ist, zu bilden; die Wahl eines neuen Präsidenten kann den Weg für eine verstärkte Zusammenarbeit ebnen." Andere Bedenken betreffen die neuen Vorschriften, nach denen die vom Parlament gewählten Mitglieder des Verfassungsgerichts außerhalb des normalen Benennungsverfahrens für den obersten Gerichtshof benannt werden können. Positiv bewertete die EU-Kommission die Länge von Gerichtsverfahren und den Stand der Digitalisierung im ungarischen Justizwesen.
Für Polen kritisiert der Bericht die seit 2015 durchgeführten Justizreformen. Gegen Ungarn und Polen läuft jeweils ein Rechtsstaatsverfahren nach Art. 7 Abs. 1 des EU-Vertrags (EUV). Gegen Polen sind 2019 und 2020 wegen der Justizreformen jeweils ein Vertragsverletzungsverfahren auf den Weg gebracht worden.
Daneben zählt der Bericht kritische Einschätzungen zur Lage der Justizsystem in Bulgarien, Rumänien, Kroatien und der Slowakei auf.
Für die EU-Kommission bleibt aber gerade Ungarn ein besonderer Fall. Unabhängige Medien würden systematisch behindert und eingeschüchtert. Die Zivilgesellschaft stehe vor allem dann unter Druck, wenn sie eine kritische Haltung gegenüber der Regierung habe. Im Kampf gegen hochrangige Korruption gebe es Mängel. Die Regulierung von Lobbyismus sei unzureichend.
Ein neues Werkzeug, das gleich für Ärger sorgt
Auch dazu hatte Jourová bereits im Spiegel-Interview klare Ansagen gemacht. Über Ungarns Regierungschef Victor Orbán sagte sie: "Er baut eine kranke Demokratie auf." In den ungarischen Medien gebe es kaum noch Kritik an der Regierung. Und sie fürchte, die Menschen in Ungarn könnten eines Tages feststellen, dass ihre letzte Wahl zugleich die letzte freie Wahl war.
Die Reaktion aus Ungarn ließ nicht lange auf sich warten. Mit Datum von Montag schickte Orbán ein Schreiben an die deutsche Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und forderte Jourová darin zum Rücktritt auf. Ihre Aussagen zu Ungarn seien eine Beleidigung. Von der Leyen sicherte als Reaktion am Dienstag ihrer Vize-Präsidentin das "vollste Vertrauen" zu.
Das neue Format des europaweiten Rechtsstaatsberichts stellt aus Sicht der Kommission ein neues wichtiges Werkzeug neben den Sanktionsinstrumenten wie dem Art. 7-Verfahren oder dem Vertragsverletzungsverfahren dar. Der Rechtsstaats-TÜV wurde auch eingeführt, weil sich andere Instrumente der EU bislang als wenig wirksam erwiesen haben.
Unter anderem auf Grundlage der Kommissionsberichte soll künftig auch die Vergabe von EU-Mitteln eingeschränkt werden können. Über die dafür notwendige Verordnung wird allerdings noch verhandelt. Länder wie Ungarn und Polen lehnen einen jüngst von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vorgelegten Vorschlag für die Verordnung als zu weitgehend ab. Im EU-Parlament wird er hingegen für nicht hart genug gehalten.
Anm. d. Red.: Zunächst hieß es an dieser Stelle unzutreffend, dass die BVerfG-Entscheidung keine Erwähnung in dem Bericht gefunden hat. Korrigiert am 01.10.2020, 09.56 Uhr.
EU-Bericht zu Justiz und Medien in Europa: . In: Legal Tribune Online, 30.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42968 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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