Russland hat einen Gefangenentausch ins Spiel gebracht – unter Beteiligung Deutschlands. Kann die Justiz von Strafe absehen und Verurteilte ins Ausland überstellen? Und was wäre dabei die Rolle des Bundespräsidenten, das erklärt Nikolaos Gazeas.
LTO: Herr Gazeas, Russland will offenbar am liebsten den Mann, der in Berlin wegen des Tiergartenmordes 2021 verurteilt wurde, aus dem deutschen Gefängnis heraus und zurück ins Heimatland holen. Und zwar in einem Deal mit den USA im Austausch gegen eine US-Basketballerin und einen weiteren US-Bürger, die Russland inhaftiert hat. Mal angenommen, Deutschland würde sich in so einem Fall außenpolitisch durchringen, könnte die Bundesregierung über das Schicksal eines gerichtlich verurteilten Straftäters so entscheiden?
Nikolaos Gazeas: Im Ergebnis ja. Solche Entscheidungen würden, sollte es dazu kommen, am Ende auf höchster politischer Ebene getroffen. Sie gehören keineswegs zum Alltagsgeschäft, sondern sind eine absolute Ausnahme. Historisch kommt der Gefangenenaustausch aus dem Krieg. Kriegsgefangene wurden und werden nicht selten gegeneinander ausgetauscht. In der Praxis nicht unüblich sind auch Fälle des Austausches von Agenten von Geheimdiensten, die enttarnt wurden. Eher sehr selten ist der Austausch von aus politischen Gründen Gefangenen zwischen zwei Staaten. Ein Austausch im Dreiecksverhältnis, ohne dass Deutschland selbst einen Gefangenen im Ausland dafür bekommt, ist noch ungewöhnlicher.
Sieht das deutsche Recht grundsätzlich Spielraum für einen solchen Austausch vor?
Gazeas: Eine klare gesetzliche Grundlage hierfür gibt es nicht. Einen solchen Fall einer vorzeitigen Beendigung der Strafhaft würde man rechtlich eher kreativ lösen, sei es über das Instrument des Absehens von der weiteren Vollstreckung bei Auslieferung oder Ausweisung, über eine formale Unterbrechung des Laufs der Strafzeit, einen Strafresterlass, einer Überstellung zur Strafvollstreckung im Wege der Rechtshilfe bis hin zu einer möglichen Begnadigung.
Warum könnte die Justiz von einer Strafvollstreckung absehen?
Gazeas: Die Strafprozessordnung sieht in § 456a StPO die Möglichkeit vor, dass von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe abgesehen werden kann, "wenn der Verurteilte wegen einer anderen Tat einer ausländischen Regierung ausgeliefert, an einen internationalen Strafgerichtshof überstellt oder wenn er aus dem Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes abgeschoben, zurückgeschoben oder zurückgewiesen wird." Eine Auslieferung ist jedoch dem Wortlaut nach nur dann möglich, wenn dies wegen einer anderen Tat erfolgt als die abgeurteilte Tat. Eine Abschiebung ist rechtlich bei einer Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe wie vorliegend der Fall ohne Vollstreckungsübernahme durch den Empfängerstaat nicht einfach so möglich.
Dürfte die Bundesanwaltschaft das im Alleingang entscheiden, oder braucht es dafür die Zustimmung des Gerichts, das das Urteil vielleicht auch nach einem aufwändigen Prozess gefällt hat?
Gazeas: Formal ist die Staatsanwaltschaft – im Fall des Tiergartenmordes der Generalbundesanwalt – die sogenannte Vollstreckungsbehörde und damit die Herrin der Strafvollstreckung. Der Generalbundesanwalt könnte über die Beendigung der Strafvollstreckung auch im Alleingang ohne Zustimmung des Gerichts entscheiden. Hingegen kann der Generalbundesanwalt nicht darüber entscheiden, was mit dem wegen des Tiergartenmordes Verurteilten nach seiner Haftentlassung passieren würde, also auch nicht, ob, auf welche Art und unter welchen Bedingungen er nach Russland geschickt werden würde.
Überstellung - ohne Straferlass oder Begnadigung
Wann dürfen Verurteilte aus Deutschland in ein anderes Land überstellt werden, also zum Beispiel nach Russland?
Gazeas: Es gibt ein rechtshilferechtliches Übereinkommen des Europarates aus dem Jahr 1983, das die Überstellung verurteilter Personen regelt. Dieses Übereinkommen gilt seit Ende 2007 auch im Verhältnis zwischen Deutschland und Russland. Ziel dieses Übereinkommens ist es, ausländische Verurteilte in ihre Heimatstaaten überstellen zu können, damit sie dort ihre Haftstrafe verbüßen können. Durch die förmliche Übernahme der Strafvollstreckung durch Russland wird die Vollstreckung der Sanktion im Urteilsstaat nach Art. 8 des Überstellungs-Übereinkommens ausgesetzt. Das würde hier jedoch in dem klaren Wissen geschehen, dass Russland die Strafe nicht vollstrecken wird. Rechtlich wäre das jedoch zulässig. Das Übereinkommen stellt in seinem Art. 12 klar, dass jede Vertragspartei, hier also auch die Russische Föderation, nach ihren nationalen Gesetzen eine Begnadigung, Amnestie oder eine gnadenweise Abänderung der Sanktion gewähren darf. Dieser Weg wäre rechtlich und politisch der in meinen Augen vorzugswürdige. Denn in Deutschland gäbe es dann weder einen Straferlass noch eine Begnadigung. Ein solches wäre kaum vermittelbar.
Wer würde über einen solchen Schritt letztlich entscheiden?
Gazeas: In einer solchen – auch außenpolitisch sehr relevanten – Entscheidung wäre neben dem Bundesjustizministerium insbesondere das Auswärtige Amt involviert, bei der hiesigen brisanten Konstellation mit den USA und Russland würde das Bundeskanzleramt sicher ebenso mitreden und vielleicht sogar der Bundespräsident, wenn tatsächlich eine Begnadigung erwogen werden würde.
Wie würde eine Begnadigung ablaufen?
Gazeas: Der Weg über eine Begnadigung in Deutschland klingt auf den ersten Blick fernliegend, wäre juristisch jedoch neben der in meinen Augen vorzugswürdigeren Überstellung zur Strafvollstreckung im Rechtshilfeweg die rechtlich sauberste Lösung: Denn alle anderen Möglichkeiten, die weitgehend im Strafprozessrecht und im Strafvollstreckungsrecht geregelt sind, passen nicht wirklich. Das Begnadigungsrecht hingegen setzt inhaltlich keine Bedingungen. Es ist bei Licht betrachtet weniger eine Rechtsausübung, sondern vielmehr die Ausübung freien politischen Ermessens. Seine Existenz ist grundgesetzlich verankert und steht nach Art. 60 Abs. 2 GG für den Bund dem Bundespräsidenten zu. Für die allermeisten Fälle hat der Bundespräsident in einer immer noch gültigen Gnadenanordnung aus dem Jahr 1965 dieses Recht an andere übertragen. Im vorliegenden Fall dürfte es jedoch bei ihm höchstpersönlich liegen: Zwar sieht Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 der Gnadenordnung grundsätzlich vor, dass das Begnadigungsrecht des Bundes – ein solcher Fall liegt hier vor – an den Bundesjustizminister übertragen wird. Der Bundespräsident behält sich jedoch nach Art. 2 Abs. 3 vor, in Fällen "von außerordentlicher Bedeutung" selbst zu entscheiden. Einen solchen Fall von außerordentlicher Bedeutung dürfte man hier annehmen.
Und auch auf diesem Weg hätte kein Gericht etwas zu sagen?
Gazeas: Die Gnadenentscheidung des Bundespräsidenten unterliegt keiner gerichtlichen Kontrolle. Sie bedarf aber – ganz interessant – der Gegenzeichnung durch ein Mitglied der Bundesregierung. Das ist In der Regel der Bundesjustizminister. All diese Fragen dürften nach meiner Einschätzung Theorie bleiben. Ich gehe nicht davon aus, dass ein solcher Deal auf deutscher Seite ernsthaft erwogen wird – aus verständlichen Gründen. Richtigerweise haben auch die USA sehr schnell die von Russland geforderte Einbeziehung eines Drittlandes nicht als ernsthaftes Gegenangebot bewertet.
Dr. Nikolaos Gazeas ist Rechtsanwalt und Partner der auf das Strafrecht spezialisierten Kanzlei GAZEAS NEPOMUCK in Köln. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln und regelmäßig als Anwalt in Strafsachen mit politischem Bezug – immer wieder in heiklen Fällen – mandatiert. Er ist u.a. seit 2020 der deutsche Anwalt von Alexej Nawalny.
Anm. d. Red.: Text in der Version vom 05.08.2022, 9.09 Uhr, korrigiert wurde eine Präzisierung zu § 456a StPO, Abschiebungen sind dem Wortlaut nach auch wegen der selben Tat möglich.
Forderungen Russlands: . In: Legal Tribune Online, 03.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49227 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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