Das BSG twittert, wurde erstmals gefilmt und die Anzahl der Verfahrenseingänge ist ebenso rückläufig wie die Dauer der Prozesse. Jetzt müsste es nur noch runder laufen mit der Digitalisierung.
Der Präsident des Bundessozialgerichts (BSG) hatte viel zu erzählen an diesem Dienstag in Kassel: Die Zahl der Verfahren insgesamt rückläufig: 2979 Verfahren sind bei dem Gericht im vergangenen Jahr eingegangen, das sind 4,7 Prozent weniger als noch 2018, als die Anzahl ebenfalls bereits zurückgegangen war. Lediglich die Prozesskostenhilfeverfahren steigen weiter an: Mit 603 lag die Zahl rund 19 Prozent über der des Vorjahres. Diese Verfahren sind zeitintensiv, dennoch haben die Richter die Verfahrensdauer insgesamt verkürzen können: Sie lag im Jahr 2019 im Schnitt bei 11,1 Monaten, im Vorjahr waren es noch 12,8 Monate.
Über die Hälfte der Verfahren erledigten die Richter innerhalb eines Jahres (51,7 Prozent), deutlich mehr als im Jahr 2018. Damit hätten die Richter die durch den Verfahrensrückgang verfügbar gemachten Kapazitäten genutzt und die Effizienz gesteigert, heißt es in dem Bericht.
Zwei neue Richter hat das Gericht seit Jahresbeginn, ein weiterer kam bereits im Vorjahr. 18 Frauen und 26 Männer sind damit nun als Richter beim BSG tätig, "und man weiß nicht, wie sich die personellen Veränderungen auswirken werden", sagte BSG-Präsident Professor Dr. Rainer Schlegel. Es werde bei der Rechtsprechung wohl zu Akzentverschiebungen kommen, begründet in den neuen Zusammensetzungen und damit einhergehenden anderen Rechtsauslegungen.
Noch mehr neues Personal wird es jedoch in nächster Zeit nicht geben: Dem BSG wurden aufgrund der sinkenden Eingangszahlen zwei Stellen gestrichen.
Einige hundert Follower und kein Shitstorm
Mehr Zeit als die bloße Nennung der Zahlen nahm bei der Vorstellung des Jahresberichts jedoch die Digitalisierung ein. Das BSG ist seit September 2019 bei Twitter, das in der Diskussion steht, seit der Landesdatenschutzbeauftragte von Baden-Württemberg sich von dem Dienst aus datenschutzrechtlichen Bedenken zurückgezogen hat. "Wir blicken weiter auf die datenschutzrechtliche Diskussion, werden Twitter aber beibehalten", erklärte Jutta Siefert, Richterin und Pressesprecherin beim BSG. Immerhin habe das BSG 463 Follower "und noch keinen Shitstorm zu bewältigen gehabt".
Auch die erste Urteilsverkündung, die gefilmt und im Fernsehen übertragen wurde, hat das Gericht im vergangenen Jahr hinter sich gebracht. "Wir haben Interesse daran, dass das, was wir machen, weitergetragen wird", sagte Schlegel. "Sozialrecht ist sperrig, oftmals wenig spektakulär, technisch und häufig sehr komplex", so der Bundesrichter. Doch so komplex das Thema sei, so wichtig sei es auch: "Jeder dritte Euro jährlich geht ins Sozialbudget, das macht 30 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus", so Schlegel. Da sei es schon bedeutsam, wer von diesem Budget profitiere und wer nicht.
"Es wäre aus meiner Sicht sehr wünschenswert, wenn sich die Öffentlichkeit in stärkerem Maße mit den Grundlagen des Sozialstaates beschäftigen würde, zum Beispiel mit der Frage, was Sache der beitragsfinanzierten Sozialversicherung, was der steuerfinanzierten Fürsorge ist", so der Präsident. Die Dinge seien zugegebenermaßen sehr komplex. Aber gerade deshalb müsse man sich um Verständlichkeit bemühen und sich damit auseinandersetzen. Und weiter: "Das Ergebnis könnte vielleicht eine kritischere Sicht auf manche realitätsferne Äußerung und Vorstellungen aus Politik und Verbänden zum Umbau und weiteren Ausbau des Sozialstaates sein."
"Elektronisches Postfach auch für Behörden und Verbände"
In diesem Jahr werden mit dem 1. und 12. Senat zwei Senate als Pilotprojekt die E-Akte ausprobieren. Im vergangenen Jahr hat sich das Gericht für ein Dokumentenmanagementsystem entschieden, das jetzt für die BSG Bedürfnisse angepasst wird. Die Einführung binde Personal und sei auch noch ein Akzeptanz-Thema, so Schlegel. "Die Vorstellung, dass man kein Papier mehr hat, ist schon gewöhnungsbedürftig", sagte der Richter.
Langfristig betrachtet funktioniere die Digitalisierung der Gerichte vor allem nicht, wenn nicht auch die Verbände und Behörden verpflichtet würden, ein elektronisches Postfach zu nutzen. "Der Anteil der Prozessbevollmächtigten etwa bei den Sozialverbänden und Gewerkschaften ist erheblich", sagt der Präsident, "ohne ein Behörden- und Verbändepostfach ist die E-Akte für das BSG nicht sinnvoll".
Das besonderer elektronische Anwaltspostfach (beA) allein reicht dafür nicht: Verbände wie die DGB-Rechtsschutz oder der Sozialverband VdK dürfen nach § 73 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 bis 9 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ihre Mitglieder vor dem BSG vertreten. "Diese Institutionen sind als solche prozessfähig; sie werden lediglich durch Volljuristen vertreten. Diese Personen treten dann zwar wie Rechtsanwälte auf, sind es aber nicht. Und weil die Kommunikation mit dem Verband laufen muss und nicht mit jedem einzelnen Beschäftigten laufen darf, sind die Bemühungen um das Verbändepostfach so zeitraubend", erklärt BSG-Richterin Jutta Siefert.
Für Präsident Schlegel sind noch viele weitere Fragen ungeklärt: Was bleibt überhaupt noch ein Dokument im Sinne der diversen Prozessordnungen von AGG über SGG bis VWGO oder ZPO, was passiert mit der Postzustellungsurkunde, wie soll die Akteneinsicht ablaufe? Zudem stellten sich technische Fragen wie: wo stehen die Server und reicht die Bandbreite? Alles sei erst im Entstehen begriffen, aber "es fehlt an einem Masterplan und einer richtigen Strategie", so Schlegel. Es werde aber eine Arbeitsgruppe beim Bundesjustizministerium geben, in die alle Bundesgerichte Vertreter schicken.
Das BSG wolle trotz allem bis 2024 papierlos sein, so Schlegel, "ob das aber klappen wird, kann man nicht mit Sicherheit sagen".
Tanja Podolski, Jahresbericht des BSG: . In: Legal Tribune Online, 04.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40121 (abgerufen am: 16.11.2024 )
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