Inhaltlich hatte das BSG bisher bei Corona-Themen nicht mitzuentscheiden. Die Frage der Impfpriorisierung könnte aber dort landen -und hätte vor dem Gericht in Kassel wohl keinen Bestand, wie Präsident Schlegel andeutete.
"Ich verstehe nicht, warum die Bundesregierung diese Regelung im Wege einer Verordnung (VO) macht." Der Präsident des Bundessozialgerichts (BSG) in Kassel positionierte sich bei der Jahrespressekonferenz seines Gerichts am Dienstag deutlich zum Vorgehen der Bundesregierung, die Priorisierung der Impfgruppen nicht über ein formelles Gesetz zu regeln. Es gehe um "eine wesentliche Entscheidung, teilweise um Leben", sagte Professor Dr. Rainer Schlegel. Aber: Der Vorteil einer VO sei, dass man sie als Gericht für nichtig erklären könne. Es brauche nur den entsprechenden Fall, um sie eben dort hinzubringen.
Schlegel zeigte sich bei der Jahrespressekonferenz, die das Gericht pandemiebedingt erstmals digital abhielt, bekannt meinungsstark. Wie diverse Sachverständige im Bundestag halte er ein formelles Gesetz für erforderlich, um die Priorisierung der Impfungen zu regeln. Außerdem fehlt auch seiner Ansicht nach in der Verordnung eine Härteklausel, über die Menschen unabhängig von den definierten Gruppen in besonderen Fällen früher eine Impfung erhalten könnten.
Dies müsse, so Schlegel, über Regelbeispiele gelöst werden, "um überhaupt die Flughöhe darzulegen, auf welcher wir uns bewegen". Eine solche Ausnahmeregel müsse eng geführt werden, damit nicht zu oft die Gerichte angerufen werden. Ob das dann die Sozialgerichte wären, ist Schlegels Einschätzung nach fraglich: Es sei möglich, "dass man uns für die Zuständigkeit wegnimmt", sagte er.
Wie die Sozialgerichte für Corona-Fälle zuständig werden
Beim BSG sind Fälle zur Priorisierung bisher nicht anhängig, die liegen noch bei den unteren Instanzen. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen/Bremen etwa hatte kürzlich einen Fall zur Priorisierung nach der Corona Impfverordnung (CoronaImpfV) zu entscheiden. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass die generalisierende und typologisierende VO nachvollziehbar sei (Beschl. v. 02.02.2021, Az. L 5 SV 1/21 B ER). Offenlassen konnten die Richterinnen und Richter, ob die Regelung in Form einer VO ausreichend war und ob es einer Härtefallregelung bedurft hätte.
Die Klage war zunächst beim Verwaltungsgericht eingereicht worden, das dann die dann an die Sozialgerichtsbarkeit verwies. Nach einer Verweisung muss das angerufene Gericht entscheiden. Laut Schlegel spricht aber auch nicht zuletzt die Tatsache, dass die Verordnungsermächtigung für das Bundesgesundheitsministerium zu den Impfungen in § 20i Sozialgesetzbuch (SGB) V geregelt ist, für eine Zuständigkeit der Sozialgerichte.
Die Themen Gesundheit und Soziales seien überdies die originären Themen des BSG, damit "sind fast alle Zuständigkeiten des Gerichts durch die Corona-Gesetzgebung tangiert", so Schlegel. Zu einer Klageflut bei den SG habe das bisher aber nicht geführt. Verfahren aus den ersten Monaten der Pandemie, etwa zur Finanzierung von digitalen Endgeräten für Schüler aus der Grundsicherung oder über Mehrbedarf oder zur Finanzierung des Mund-Nase-Schutzes, seien inzwischen vom Gesetzgeber geklärt, so der BSG-Präsident.
Pandemie zeigt Schwächen des Systems
Dennoch ist davon auszugehen, dass einige Verfahren es noch bis zum BSG schaffen werden – wenn auch erst in einigen Jahren. Die Pandemie habe Schwächen aufgezeigt, sagte Schlegel, er nannte welche im materiellen Sozialrecht: Selbstständige, insbesondere Solo-Selbstständige und geringfügig Beschäftigte seien über das Recht nur unzureichend geschützt.
Deutlich seien zudem die Schwächen bei der Digitalisierung geworden. "Seit dem Jahr 2013 ist es für Sozialgerichte rechtlich zulässig, mündliche Verhandlungen digital durchzuführen", sagte der Präsident, das Gericht stoße aber an seine Grenzen: Der Bund stelle zwar ein System für Videoverhandlungen zur Verfügung, das funktioniere aber nicht stabil und "ist damit für Verhandlungen ungeeignet".
Die allgemein verfügbaren, handelsüblichen Videokonferenzsysteme böten ein viel größeres Maß an Stabilität, doch niemand wisse, wo die Server stehen – dabei sei es nach den Vorgaben der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) nötig, dass die Server in Europa stehen. Wem also solle man den Vorrang geben: Dem Datenschutz oder dem Recht auf effektiven Rechtsschutz, nach dem auch in einer Pandemie Verhandlungen durchgeführt werden sollten? Schlegel meint, dem effektiven Rechtschutz sei Vorrang einzuräumen. Es bleibe dabei aber "schwer zu verstehen", dass nach acht Jahren für Videoverhandlungen keine bundesweite Lösung aufgestellt worden sei.
Dass es möglich sei, einen Server aufzusetzen, zeige etwa Schleswig-Holstein, so Schlegel. Das Land hat inzwischen einen eigenen Server für Videokonferenzen.
Stresstest bestanden
Insgesamt aber, so die Einschätzung des Gerichtspräsidenten, habe der Sozialstaat den Stresstest ganz gut bestanden. "Wir haben leistungsfähige Institutionen und ausgewogene Leistungen, eine robuste Wirtschaft, finanzielle Spielräume durch die Schuldenbremse und das subjektive Wissen um die Leistungsfähigkeit der Sozialsysteme."
Auch das BSG selbst hat sich gut durch die Pandemie gebracht: Zwar liegt die Zahl der Erledigungen weit unter den Zahlen von vor fünf Jahren (2016: 2.836 Erledigungen). Insgesamt aber ist der Negativtrend gestoppt: Mit 2.321 lag die Zahl der Erledigungen 0,3 Prozent über der Zahl des Vorjahres. Der Gesamtbestand sank im Vergleich zum Vorjahr um 9,3 Prozent auf 979.
Jahresbericht des Bundessozialgerichts: . In: Legal Tribune Online, 10.02.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44236 (abgerufen am: 08.11.2024 )
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