Eine Doppel-Neubesetzung an der Spitze des Bundesfinanzhofs wird zur Streitfrage zwischen BMJV und den obersten Bundesgerichten: Dort befürchten Stimmen politische Einflussnahme und eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit.
Eine doppelte Leerstelle ist Auslöser für einen Streit zwischen dem BMJV und den Präsidentinnen und Präsidenten der Bundesgerichte. Denn seitdem der bisherige Präsident am Bundesfinanzhof (BFH) Rudolf Mellinghoff Ende August in den Ruhestand verabschiedet wurde, fehlt eine neue Führung, auch der Vize-Präsidentenposten ist vakant. Zwar gilt die Frage, wer auf diese Posten nachrücken soll, bereits als ziemlich sicher vorbestimmt, aber es gibt Widerstand in der Sache. Und die Meinungsverschiedenheit zwischen der Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) und den Führungen der Bundesgerichte betrifft eine grundlegende Frage und das Selbstverständnis der Bundesjustiz.
Denn wer an der Spitze eines Bundesgerichts steht, ist nicht nur Chef der Verwaltung, hat die Aufsicht und entscheidet über Beförderungen. Er ist auch Richterin oder Richter eines Fachsenats - und zwar als Vorsitzende Richterin bzw. vorsitzender Richteran der Spitze der übrigen Kollegen des Senats. Eine einflussreiche Position, die in der täglichen Revisionsarbeit Spezialkenntnisse verlangt.
Der BFH entscheidet in letzter Instanz über Auslegungsfragen einer nicht gerade unkomplizierten Rechtsmaterie. Anders als in anderen Gerichtsbarkeiten gibt es nur zwei Instanzen, nach dem Finanzgericht kommen die Verfahren direkt zum BFH nach München. Und über den Tisch des Vorsitzenden wiederum gehen alle Verfahren aus seinem Senat. Wer den Vorsitz hat, muss im Arbeitsalltag des BFH versiert sein.
Um diese Anforderungen drehen sich die Sorgen einiger Richter am BFH. Der eigene Richterverein am BFH wirft Lambrecht dabei vor, die fachliche Qualifikation zu vernachlässigen und die Rechtsprechung in ihrer Leistungsfähigkeit zu gefährden.
BMJV will Anforderungsprofil für Spitzenpositionen an Bundesgerichten ändern
Lambrecht möchte für die Neubesetzungen an der Spitze von Senaten beim Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht und Bundesfinanzhof ein neues Anforderungsprofil festlegen. Die aktuelle Version gilt seit Anfang 2017. Verlangt werden darin neben besonders herausragenden Qualifikationen und einer "Genderkompetenz" insbesondere "in der Regel eine mindestens fünfjährige richterliche Bewährung an dem jeweiligen obersten Bundesgericht".
"Auf das Kriterium, wonach Vorsitzende nur diejenigen werden können, die sich zuvor als Revisionsrichter bewährt haben, soll künftig verzichtet werden", berichtet Matthias Loose, der stellvertretende Vorsitzende des Richtervereins am BFH. "Diese Änderung kam völlig überraschend und erfolgte ohne jegliche Absprache mit den Präsidenten der Bundesgerichte."
Aus Sicht des Richtervereins gibt es "keinen Anlass, bei der Besetzung dieser Stellen auf die vorherige Bewährung als Revisionsrichter zu verzichten", wie Loose sagt. "Ansonsten wäre die Funktionsfähigkeit und das Ansehen des Gerichts gefährdet." Und weiter: "Es stünde zu befürchten, dass andere Kriterien als die fachliche Eignung und Bewährung als Revisionsrichter für die Stellenbesetzung maßgeblich sein könnten."
Droht mehr politischer Einfluss auf die Richterauswahl?
Damit spricht Loose einen empfindlichen Punkt an: Die Richterbesetzung auf Bundesebene ist auch eine politische Angelegenheit. Bestimmt werden neue Bundesrichterinnen und -richter durch einen Richterwahlausschuss. In dem Gremium sitzen auf der einen Seite die zuständigen 16 Landesminister des jeweiligen Fachgebiets und auf der anderen Seite die gleiche Anzahl Mitglieder, die der Bundestag gewählt hat. Mit in die Entscheidung eingebunden ist das jeweilige Bundesministerium, so sieht es Art. 95 Grundgesetz vor. Soll also beispielsweise eine Stelle am BGH besetzt werden, entscheidet auch das BMJV mit; soll eine Stelle am Bundesarbeitsgericht besetzt werden, ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales dabei.
Wenn es um parteipolitische Einflussnahme auf die Justiz geht, denkt man schnell an die Entwicklungen im Nachbarland Polen, wo die PiS-Regierung zunehmend versucht, die Richterschaft zu disziplinieren. Davon aber sind die deutschen Verhältnisse weit entfernt. Das Richterwahlmodell made in Germany baut auch darauf, dass Kandidaten zwischen den Parteien einvernehmlich gefunden werden, also quasi überparteiliche Richterinnen und Richter gefunden werden und dass sie sich auch von ihrem ursprünglichen Partei-Ticket in ihrer Richterarbeit mit der Zeit entfernen können.*
Bundesgerichte positionieren sich im Vorfeld des Treffens deutlich
Aber es ist und bleibt ein sensibles Auswahlklima. Kleinste Änderungen könnten das System gefährden. Und so warnt auch der BGH-Anwalt Prof. Dr. Volkert Vorwerk in einem Interview bei beck-aktuell, die politische Einflussnahme müsse wachsam beobachtet werden.**
Am Freitag treffen sich deshalb die Spitzen der Bundesgerichte mit der BMJV-Staatssekretärin Dr. Margaretha Sudhof, es wird zentral um das künftige Anforderungsprofil gehen. In der Vergangenheit hat das BMJV einen Vorschlag gemacht, die Bundesgerichte stimmten zu. Dieses Mal wird es so einfach nicht gehen.
Im Vorfeld des anstehenden Treffens kommen für die Justiz ungewöhnlich deutliche Stimmen aus den Bundesgerichten. In einer gemeinsamen Stellungnahme machen die Präsidentinnen und Präsidenten deutlich, dass sie auf fachliche Eignung keinesfalls verzichten wollen. Zum Einfluss der Parteipolitik äußern sie sich in ihrer Stellungnahme nicht.
"Bundesrichterliche Erfahrung über einen längeren Zeitraum hinweg ist unverzichtbare Voraussetzung, um von einer Eignung und Befähigung für eine Beförderungsstelle an einem Bundesgericht ausgehen zu können", erklärte der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe auf Anfrage und in Abstimmung mit den anderen Bundesgerichten. Die Präsidenten verweisen auf das Rechtsprinzip, das bei der Besetzung öffentlicher Ämter gelten soll: "In diesem Gespräch möchten die Präsidentinnen und Präsidenten unter anderem ihre am Prinzip der Bestenauslese ausgerichtete Auffassung erläutern", heißt es in der gemeinsamen Stellungnahme.
Treffen des BMJV mit den Präsidentinnen und Präsidenten der Bundesgerichte
Bundesjustizministerin Lambrecht hat die Vorwürfe und Sorgen des Richtervereins am BFH zurückgewiesen. "Richter, die im diesjährigen Richter-Wahlausschuss zum Bundesfinanzhof gewählt wurden, verfügen über mehrjährige Erfahrung in der Finanzgerichtsbarkeit und erfüllen vollständig die Voraussetzungen, um Richter am Bundesfinanzhof zu werden", sagte Lambrecht.
"Ich bezweifle, dass es wirklich das wichtigste Kriterium sein kann, dass man schon fünf Jahre an diesem einen Gericht war", erklärte die Ministerin. "Oder ob es nicht - neben der ohnehin vorhandenen richterlichen Erfahrung in der jeweiligen Fachgerichtsbarkeit - auch wichtig ist, dass man, wenn man eine Leitungsfunktion übernimmt, schon Erfahrungen in Personalführung, in Haushaltsangelegenheiten und im Management einer größeren Verwaltung hat." Ob dann aber gleich die Fünf-Jahre-Erfahrungsregel gestrichen werden muss oder ob nicht auch unter dem geltenden Anforderungsprofil, das ja von "in der Regel" spricht, Ausnahmen gut möglich sind, wird auch das Treffen am Freitag beschäftigen.
Über das Anforderungsprofil für die übrigen Bundesgerichte, also das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht entscheidet übrigens das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit. Auch aus diesem Ministerium wird am Freitag ein Vertreter beim Treffen dabei sein.
"Man kann bei der Besetzung der Führungspositionen durchaus über größere Diversität sprechen, aber dann müssen die Kriterien transparent sein", fordert die Bundestagsabgeordnete und Rechtspolitikerin Manuela Rottmann von den Grünen.
Für die laufende Präsidenten- und Vize-Präsidentenauswahl am BFH kommt die Diskussion zu spät. Präsident soll aller Voraussicht nach Hans-Josef Thesling werden, ein CDU-naher Beamter im nordrhein-westfälischen Finanzministerium, zuvor Leiter des Finanzgerichts in Düsseldorf. Für den Posten der Vizepräsidentin ausgewählt ist demnach Anke Morsch, derzeit Präsidentin des saarländischen Finanzgerichts und ehemalige SPD-Staatssekretärin. Bestätigt ist das nicht. Beide wurden jedoch jüngst als Richter an den BFH gewählt - die Voraussetzung für weitere Beförderungen. An einem Bundesgericht haben die beiden vorher nicht gearbeitet.
Unmittelbar vor dem Treffen ist eine gewisse Stille eingekehrt, auch der Richterverein am BFH möchte sich auf Anfrage von LTO nicht mehr weiter äußern. Dass es beim Treffen am Freitag in dieser grundsätzlichen und zukunftsweisenden Frage bereits eine Einigung geben wird, darf bezweifelt werden.
Mit Material der dpa
* Anm. d. Red.: Passage präzisiert 04.12.2020, 10.06 Uhr.
** Anm. d. Red.: Passage präzisiert 04.12.2020, 10.06 Uhr.
Richterauswahl an den Bundesgerichten: . In: Legal Tribune Online, 03.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43631 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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