BMJ-Studie zu Eingangszahlen: Der Trend geht weg vom (Zivil-)Gericht

von Dr. Markus Sehl und Antonetta Stephany

24.04.2023

In erster Instanz gehen bei deutschen Zivilgerichten immer weniger Verfahren ein. Woran liegt das? Und welche Folgen hat dieser Trend für Justiz und Anwaltschaft? Ein erster Blick in den Forschungsbericht, den das BMJ in Auftrag gegeben hat.

Der Trend ist deutlich und er setzt sich fort: 21 Prozent weniger Verfahren verzeichneten deutsche Landgericht von 2005 bis 2019. Bei den Amtsgerichten waren es sogar 36 Prozent, das sind über ein Drittel weniger Klagen – und der Trend lässt sich auch für die die Jahre 2020 bis 2022 schon jetzt absehen.

Doch was sind die Ursachen dieser Entwicklung? An diesem Punkt setzte ein im September 2020 vom Bundesjustizministerium (BMJ) in Auftrag gegebenes Forschungsvorhaben an, das am Montag seinen Abschlussbericht vorlegte. "Die Ergebnisse zeigen, dass weniger vor den Zivilgerichten geklagt wird. Und der Bericht zeigt zugleich auf, dass die Justiz eine wichtige Akteurin bei der Bewältigung privatrechtlicher Konflikte bleibt", fasst Staatssekretärin Dr. Angelika Schlunck den Bericht zusammen.

Justizminister Marco Buschmann (FDP) äußerte sich bislang nicht selbst zu den Ergebnissen. Einen Tweet waren dem BMJ die Ergebnisse der Studie offenbar auch nicht wert, auch wird der Abschluss des Vorhabens nicht als Topthema auf der BMJ-Website erwähnt, sondern in der Unterrubrik Pressemitteilungen. Erstaunlich ist es also, wie still und leise diese lange erwartete Studie veröffentlicht wird - dabei sind die Ergebnisse durchaus interessant und werden in den nächsten Tagen und Woche von der Justiz und Anwaltschaft sicherlich genauestens unter die Lupe genommen.

Zu der knapp 450 Seiten starken Studie kann die folgende Übersicht und Einordnung zwar nur einen ersten Eindruck vermitteln. Es lassen sich aber zentrale Beobachtungen schon jetzt zusammenfassen.

Aufwand, Kosten, Dauer und Erfolgsaussichten für Bürger entscheidend

Methodisch knüpfte das Forschungsvorhaben zunächst an die Entwicklung der tatsächlichen Eingangszahlen an. Diese wurden statistisch näher untersucht. Darüber hinaus hat das Forschungsteam die Bevölkerung und verschiedene Verbände sowie die Anwaltschaft und die Richterschaft befragt und Gerichtsakten ausgewertet. Ergänzend wurden Daten bei Schlichtungsstellen und Rechtsschutzversicherern eingeholt.

Insgesamt wurden verschiedene Ursachen ausgemacht, die die rückläufigen Zahlen zu erklären können. Die Befragung von 7.500 Privatpersonen hat demnach ergeben, dass der hohe Aufwand, die Kosten der Rechtsverfolgung, die Verfahrensdauer und die Schwierigkeit, die Erfolgsaussichten abzuschätzen, die wichtigsten Gründe für einen Verzicht auf eine Klage darstellen. Auch die Anwaltschaft rate immer häufiger vom Gang zu Gericht ab - aus ähnlichen Gründen wie die Rechtssuchenden.

Zusätzlich gibt es offenbar Frustration wegen fehlender Spezialisierung an den Gerichten und schlechten Grades der Digitalisierung in der Justiz. In der Justiz wird eben das -  genau wie die Überlastung durch Klagewellen - als Hauptprobleme ausgemacht. Der Bericht zeichnet ein eher nachdenklich stimmendes Gesamtbild zu den Entwicklungen in der Zivilgerichtsbarkeit. 

Heftiger Rückgang bundesweit und in allen Sachgebieten - trotz "Dieselverfahren"

Zunächst untersucht die Studie, welche Verfahren nicht mehr zu Gericht gelangen. Im Untersuchungszeitraum zwischen 2005 und 2019 ging die Anzahl der erstinstanzlichen Verfahren bei den Zivilgerichten um mehr als 600.000 zurück, das entspricht einem Rückgang um 32,5 Prozent. Dabei sind die Amtsgerichte sowohl in absoluten Zahlen (-522.746) als auch anteilig (-36,1 Prozent) stärker vom Rückgang betroffen als die Landgerichte (-88.755 bzw. -20,6 Prozent). Der Rückgang habe sich auch nach dem Ende des Untersuchungszeitraums in den Jahren 2020 bis 2022 fortgesetzt, so die Untersuchung. Der Rückgang finde in allen Bundesländern statt, betroffen seien "sowohl kleine als auch mittlere und große Konflikte gleichermaßen". Ortsgebundene Justiz-Phänomene wie Fluggastrechtestreitigkeiten in Flughafennähe oder die "Dieselverfahren" an Autobauerstandorten stellten nur zeitweilige Auffälligkeiten dar, ordnet die Studie ein.

Auch wenn also bei Reisevertragssachen, den Verkehrsunfallsachen und den Kaufsachen entgegen dem allgemeinen Trend die Eingangszahlen "teils stark angestiegen" sind - wegen "Dieselskandal, Fluggastrechteverordnung und Zunahme von Problemen im Flugbetrieb" - ändert diese Entwicklung jedoch nichts am Gesamttrend. "Die Anstiege in einzelnen Sachgebieten sind teils prozentual sehr groß, insgesamt aber zahlenmäßig gering und häufig nur von kurzer Dauer, so dass sie keine Umkehrung des allgemeinen Trends sinkender Eingangszahlen bei Zivilgerichten zur Folge haben", resümiert die Studie.

Bei Aktenstichproben aus den Jahren 2015 und 2019 konnte die Studie zudem feststellen, dass die überwiegende Anzahl der zivilrechtlichen Klagen bei den Amtsgerichten und den Zivilkammern der Landgerichte von Unternehmen und nicht von Privatpersonen ausging. Die Werte liegen bei etwa 57 bzw. 68 Prozent (Amtsgerichte) und 61 bzw. 57 Prozent (Zivilkammern).

Bürgerinnen und Bürger lösen Rechtsprobleme lieber ohne Gerichte

Im Rahmen der Befragung der 7.500 Privatpersonen äußerten rund 43 Prozent der Befragten außerdem, in den vergangenen zehn Jahren mit keinem zivilrechtlichen Problem befasst gewesen zu sein. Noch wichtiger für die Justiz und Anwaltschaft: Die restlichen 57 Prozent lösten ihre Konflikte in erster Linie durch Entgegenkommen oder Kulanz der Gegenseite, gefolgt von Käuferschutz oder generell einvernehmlich. Lediglich 17,7 Prozent aus dieser Gruppe beschritten in mindestens einem ihrer Konflikte den Weg zum Gericht.

Die Verfahrenseingänge bei den Schlichtungsstellen sind laut Studie seit 2005 entsprechend um rund 50.000 bis 60.000 gestiegen, während sie im gleichen Zeitraum bei den Amts- und Landgerichten um circa 500.000 gesunken sind. Der Anstieg der Verfahrenszahlen in der Schlichtung könne damit - wenn überhaupt - nur zu einem geringen Teil für die sinkenden Eingänge bei der Zivilgerichtsbarkeit verantwortlich sein. 

Anwaltschaft kritisiert Kosten, Dauer und mangelnde Digitalisierung

Auf dem Weg vom zivilrechtlichen Konflikt zum Gericht sieht die Studie Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte als die wichtigsten Weichensteller, da knapp 90 Prozent aller amtsgerichtlichen und  zwangsläufig sämtliche Klagen vor dem Landgericht von ihnen eingeleitet werden.

Auch  die Bevölkerungsbefragung belege diese Filterwirkung, heißt es in der Studie. Eine Befragung von 2.269 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten ergab, dass rund 38 Prozent einen Rückgang ihrer forensischen Tätigkeit in den vergangenen zehn Jahren verzeichneten. 30,7 Prozent äußerten, aktuell seltener als noch vor zehn Jahren zu einer Klage zu raten. Als Hauptgründe nannten sie die Kosten (52,0 Prozent) und Länge eines Verfahrens (59,9 Prozent) sowie nicht abschätzbare Erfolgsaussichten (66,3 Prozent). Dabei werde die Verfahrensdauer als wirtschaftliches Hindernis qualifiziert, vor allem bei Bauprozessen.

In Freitextantworten bemängelten Angehörige der Rechtsanwaltschaft eine zunehmende Diskrepanz zwischen der fachlichen Spezialisierung auf Richter- und derjenigen auf Anwaltsseite, ein unangemessenes Drängen auf Abschluss eines Vergleichs (trotz tatsächlich nicht signifikant gestiegener Vergleichsquote) sowie fehlende digitale Kompetenz bei den Akteuren des Gerichts und deren unzulängliche digitale Ausstattung. 

Entfremdung zwischen Anwaltschaft und Richterschaft

Die Studie will eine Entfremdung und Skepsis zwischen Anwaltschaft und Richterschaft wahrnehmen können. Dieser Eindruck ziehe sich durch Einzelinterviews, die mit Vertreterinnen und Vertretern der beiden Berufsgruppen geführt wurden. Sie äußerten sich etwa in gegenseitigen Vorwürfen fehlender professioneller Prozessvorbereitung. Die Interviewten sehen diese Entwicklung mit dem Wegfall der örtlich begrenzten Anwaltszulassung einsetzen, sie habe sich im Laufe der Zeit verstärkt und inzwischen bei den massenhaft auftretenden Schadensereignissen wie z.B. dem "Dieselskandal" ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Genutzt werde das Zivilverfahren – zum Teil sogar massenhaft –, wenn ein komfortables privates Legal-Tech-Angebot zur (gesammelten) gerichtlichen Rechtsdurchsetzung zur Verfügung steht, wofür die Betroffenen auch bereit sind, auf einen Teil ihrer Forderung zu verzichten. Dies führt zu "Unwuchten" im Geschäftsanfall bei einzelnen Gerichten oder Spruchkörpern und zur Überlastung von Richterinnen und Richtern.

Harter Befund auch für die an einigen Landgerichten neu eingerichteten englischsprachigen Kammern: "Die bei einigen Landgerichten in Großstädten eingerichteten englischsprachigen Kammern für internationale Handelssachen wurden nach Auskunft der hierzu befragten Richterinnen und Richter nur äußerst selten angerufen. Die Eingänge bewegten sich über einen Zeitraum von knapp vier Jahren bis zum Abschluss des Forschungszeitraums pro Gericht im unteren einstelligen Bereich."

Wie kann die Rechtspolitik reagieren?

Der Abschlussbericht gibt verschiedene rechtspolitische Empfehlungen ab, dazu soll insbesondere ein sogenanntes Justizstandort-Stärkungsgesetz ausgearbeitet werden, das Deutschland insbesondere für international geprägte Verfahren attraktiver machen soll. Aber auch für Verfahren ohne internationalen Bezug seien Verbesserungen erforderlich.

"Um zu gewährleisten, dass die Justiz ihrer Funktion gerecht bleibt, muss sie mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt halten. Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen, die Rechtsschutz vor den Zivilgerichten suchen, müssen dort ein zeitgemäßes Angebot erhalten, um zügig und effizient zu ihrem Recht zu kommen. Der Digitalisierung kommt dabei - dies bestätigt auch der Bericht - eine Schlüsselrolle zu", kommentiert Schlunck die Ergebnisse der Studie. Mit bis zu 200 Millionen Euro will der Bund die Länder bei Projekten zur Digitalisierung der Justiz unterstützen.

Die Studie selbst empfiehlt bundeseinheitliche Strukturen für die Ausbildung und Fortbildung der Richterschaft sowie den richterlichen Einsatz und Verbleib in bestimmten Spruchkörpern, idealerweise orientiert an gewählten Interessenschwerpunkten. Das solle stärker als bisher zum justiziellen Selbstverständnis gehören.

Es dürfe nicht um einzelne "Leuchttürme" oder "Schnellboote" der Digitalisierung gehen, die projektbezogene Aufgaben auf einzelne Gerichte auslagern, sondern um länderübergreifende Standards in den Abläufen, auch betreffend die Digitalisierung, mit denen die Justiz (wieder) auf Augenhöhe mit den Standards in Wirtschaft und Gesellschaft sowie der alternativen Streitbeilegung kommen könne. Probleme mit der Überlastung einzelner Gerichte und Spruchkörper mit Massenklagen schließlich könnten gerade nicht über eine individuelle Online-Klage, sondern ausschließlich über einen funktionsfähigen kollektiven Rechtsschutz gelöst werden, so das Resümee.

Die Studie wird Auswirkungen auf die rechtspolitischen Diskussionen haben, wenn es wieder um neues Personal für die Länderjustiz, die richtige Digitalisierungsstrategie für die Gerichte und die große Frage, wie der Rechtsstaat auf die gegenwärtigen Bedürfnisse der Rechtssuchenden reagieren kann, geht.

Zitiervorschlag

BMJ-Studie zu Eingangszahlen: . In: Legal Tribune Online, 24.04.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51619 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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