Das BAG traf 2019 viele wichtige Entscheidungen, die meisten Kapazitäten beanspruchten Nichtzulassungsbeschwerden. Bei der E-Akte stecken vier Senate mitten in der Pilotphase, twittern wird das Gericht nach wie vor nicht.
Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts (BAG), Ingrid Schmidt, fand - wie schon im Vorjahr -nette Worte für die Richter an den Landesarbeitsgerichten: Der hohe Anteil an unzulässigen Nichtzulassungsbeschwerden und erfolglosen Revisionen zeige, wie gut die Richter dort arbeiteten, sagte sie am Mittwoch in Erfurt, als sie den Jahresbericht des BAG 2019 vorstellte.
Danach gingen in Erfurt im Jahr 2019 insgesamt 2.472 Sachen ein, ein Plus von immerhin 620 Verfahren und der höchste Stand seit dem Jahr 2013. Rund zwei Drittel davon waren Nichtzulassungsbeschwerden (plus 47 Prozent im Vergleich zum Vorjahr), rund ein Drittel Revisionen und Rechtsbeschwerden (plus 23 Prozent). Erfolgreich waren von diesen 1.578 Nichtzulassungsbeschwerden lediglich vier Prozent, bei den Revisionen und Rechtsbeschwerden beträgt die Erfolgsquote 30 Prozent.
Die hohe Anzahl an Nichtzulassungsbeschwerden, die häufig bereits an der Zulässigkeit scheiterten (rund 80 Prozent), führte zu einem Anstieg bei den Erledigungen: Mit einem Plus von rund 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr lag die Zahl der erledigten Sachen bei 2.363. Dabei waren die Richter noch schneller als sonst: Im Durchschnitt vergingen sieben Monate und drei Tage, bis eine Sache erledigt war. Das sind noch einmal durchschnittlich 20 Tage weniger als im Vorjahr. "Schneller geht es nicht mehr", so die Präsidentin.
2019: "Letzte offene Rechtsfrage zum Mindestlohn" erledigt
Die arbeitsrechtlichen Themen waren 2019 wieder einmal vielfältig: Unter den Fällen habe sich auch "die letzte offene Rechtsfrage zum Mindestlohn", der Vergütung von Praktikanten, befunden, wie Schmidt formulierte. Zudem ging es um Überstundenvergütung bei der Vertrauensarbeitszeit, die Voraussetzungen für eine wirksame Zustellung in den Hausbriefkasten und "das deutsche Lieblingsthema, den Urlaub", nämlich in Form der Anrechnung des Urlaubsanspruchs auf die Elternzeit. Auch der Fall des wegen Wiederheirat gekündigten Chefarztes habe sein Ende gefunden. "Er arbeitet dort, wo er auch die letzten zehn Jahre während des laufenden Verfahrens gearbeitet hat", berichtete Schmidt, "in dem katholischen Krankenhaus".
Im 1. Senat, dem der Präsidentin selbst, ging es mehrfach um datenschutzrechtliche Fragen, wenn diese auf das Betriebsverfassungsrecht stoßen. So etwa bei Auskunftsrechten des Betriebsrates zur Wahrnehmung seiner Überwachungsfunktion oder wenn um sein Einsichtnahmerecht in Bruttoentgeltlisten gestritten wurde.
2020: Entgelttransparenz, Mitbestimmung, Kopftuch
In diesem Jahr wird sich das BAG erstmals mit dem Entgeltransparenzgesetz (EntgTranspG) befassen: Ein Betriebsrat möchte Bruttolohn- und Gehaltslisten in elektronischer Form einsehen "mit dem Ziel, Entgeltgleichheit im Betrieb herzustellen", erläuterte Schmidt. Ebenfalls um dieses Gesetz geht es im Juni. Dann wird das BAG klären, ob das Gesetz auch auf freie Mitarbeiter Anwendung findet. In dem Fall geht es um eine Reporterin vom ZDF, die vorträgt, weniger Geld als ihre männlichen Kollegen zu bekommen.
Außerdem wird sich das BAG - "seit langem mal wieder", so Schmidt - mit der Mitbestimmung befassen. Der vorliegende Fall betrifft den Aufsichtsrat bei der SAP AG. Dort ist, durchaus nicht unüblich, geregelt, dass die Hauptversammlung eine Verkleinerung des Aufsichtsrates beschließen kann, hier von 18 auf zwölf Sitze. Allerdings soll der Wegfall ausschließlich die Sitze der Gewerkschaft betreffen, womit die Arbeitnehmervertreter nicht einverstanden sind.
Zudem wird es um "den Dauerbrenner islamisches Kopftuch", Auskunftsansprüche bei Compliance-Verstößen und Vergütungsfragen für Reisezeit bei Außendienstmitarbeitern gehen.
Vier Senate bei E-Akte in Pilotphase
Nach Jahresrückblick und Themenvorschau war auch die Digitalisierung der Arbeit am Erfurter Gericht Thema. Neuland haben Deutschlands höchste Arbeitsrichter im vergangenen Jahr in Bezug auf die elektronische Akte betreten: Vier Senate, darunter auch der 1. Senat der Präsidentin, befinden sich seitdem in der Pilotphase, sie soll im Sommer abgeschlossen sein. "Das ist ein mega Thema bei uns", erklärte Schmidt. Und weiter: "Der elektronische Rechtsverkehr ist nur sinnvoll, wenn er auch in einer elektronischen Akte landet"- sonst bliebe es beim Ausdrucken der Schriftstücke.
Es brauche entsprechend Portale auf Landes- und Bundesebene, um den Datenaustausch sicherzustellen, außerdem müssten die unterschiedlichen Systeme in den Bundesländern miteinander kompatibel sein. Derzeit gebe es "ganz viel Kinderkrankheiten", zum Beispiel dass die Geschäftsstellen derzeit mangels eigenen Postfachs für Kanzleien aufwändig prüfen müssten, an welchen konkreten Anwalt in einer Kanzlei die Zustellung zu erfolgen hat. Das sei alles machbar, aber koste viel Zeit.
Schmidt bekräftigte auch die Forderung des BSG-Präsidenten, dass es eigene elektronische Postfächer für die Verbände geben müsse. "Das ist eine große Sorge, die das BSG genauso betrifft wie uns". Die Verbände dürfen sich von auch einem Vertreter vor Gericht vertreten lassen, der nach jetzigem Stand kein Anwaltspostfach hat. Ein digitaler Rechtsverkehr, so Schmidt, sei mit solchen Vertretern damit derzeit nicht möglich. "Wenn sich das nicht ändert, haben wir einen Medienbruch." Es führe also kein Weg daran vorbei, "auch die Verbände in die Nutzungspflicht einzubeziehen."
Immerhin werde sich nun "eine Arbeitsgruppe mit Vertretern der Bundesgerichte sowie Bundesjustizministerium und Bundesarbeitsministerium mit der Anpassung des Prozessrechts befassen", erklärte Schmidt. Dieses sei bisher auf Papierakten ausgelegt. Man werde sich der Digitalisierung nicht verweigern, aber so, wie es aktuell ist, würden "keine Kosten gespart". Und dann sagte Schmidt: "Es wird keine schöne neue Welt der Digitalisierung".
Kein Twitter und Arbeitszeiterfassung gelassen sehen
Von dem Kurznachrichtgendienst Twitter hält das BAG übrigens weiterhin Abstand – als einziges Bundesgericht: "Das BAG trägt dem Informationsbedürfnis von Medien und Öffentlichkeit durch Pressemitteilungen und einen eigenen Internetauftritt Rechnung", teilte das Gericht auf LTO-Anfrage schon vor der Veröffentlichung des Jahresberichts mit. Und weiter: "Es wird schon wegen der möglichen datenschutzrechtlichen Verantwortlichkeit für die Verarbeitung personenbezogener Daten Dritter durch Twitter Inc. beim Aufruf von Tweets vorläufig nicht twittern."
"Mit großer Gelassenheit" sieht Schmidt übrigens die Folgen der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung. Seit der Entscheidung streiten sich Arbeitsrechtler bundesweit, ob künftig jedes Unternehmen von allen Mitarbeitern die Arbeitszeit erfassen muss und dies gesetzlich zu normieren ist – oder eben nicht. "Ich weiß gar nicht, wie man einen Betrieb führt, ohne die Arbeitszeiten zu erfassen", kommentierte das die BAG-Präsidentin. "Jeder verantwortliche Unternehmer sollte das machen, allein schon, um sich nicht dem Anspruch auf Überstundenvergütung auszusetzen". Für die Unternehmen mit Betriebsräten brauche es jedenfalls keine neue gesetzliche Regelung, prognostizierte sie.
BAG-Jahresbericht 2019: . In: Legal Tribune Online, 06.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40157 (abgerufen am: 15.11.2024 )
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