Im "Badewannenmordfall" geht es um einen Mann, der über 13 Jahre in Haft war – für einen Mord, den es wohl nie gab. Der Fall gibt Anlass, der Fehlurteilsforschung endlich zuzuhören, meint Katharina Reisch.
Eigentlich wollte ich nur diese neue ARD-Doku zum "Mord in der Badewanne" schauen. Doch dann schlugen die Empfehlungen des Algorithmus zu: Ich sah eine Doku über "Fehlurteile und ihre Opfer" bei ZDFinfo, versank mit einer 2015er Talkshow von Sandra Maischberger in den "Tatort Gerichtssaal", fragte mich gemeinsam mit ihren Studiogästen "Wie unberechenbar ist unsere Justiz?" und als Rechtsanwalt Christian Solmecke mir "Die 5 krassesten Fehlurteile aus Deutschland" erklärte, wusste ich: Ab jetzt geht es steil bergab. Mit schwindelerregender Geschwindigkeit sauste ich das digitale Rabbit Hole hinunter. Es war in den frühen Morgenstunden, als ich dachte: Wir müssen reden – über Fehlurteile in Deutschland.
War der "Badewannenmord" ein Unfall?
Die jüngsten Entwicklungen im so genannten "Badewannenmordfall" verhelfen dem Thema zu aktueller Relevanz. Denn am Landgericht München I wird der Fall seit April 2023 neu verhandelt, für den 3. Juli sind die Schlussplädoyers angesetzt, am 7. Juli soll das Urteil verkündet werden. Die Sache wurde bereits 2012 vom Landgericht München II rechtskräftig entschieden: Manfred Genditzki wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er eine ältere Dame getötet haben soll, um vorangegangene Handgreiflichkeiten zu vertuschen (LG München II v. 17.01.2012, Az. 2 Ks 31 Js 40341/08). Die Frau wurde voll bekleidet und ertrunken in ihrer Badewanne gefunden. Genditzki war dafür 13 Jahre und sieben Monate im Gefängnis. 2022 hatte aber ein Wiederaufnahmegesuch Erfolg und er wurde aus der Haft entlassen. Inzwischen rechnet seine Anwältin fest mit einem Freispruch, denn schon lange steht ein ungeheuerlicher Verdacht im Raum: Die damalige Verurteilung könnte ein Fehlurteil gewesen sein. Neue Sachverständigengutachten legen nahe, dass die vermeintlich getötete Frau infolge eines Unfalls verstorben ist. Genditzkis Strafverteidigerin Regina Rick äußerte sich nach Prozessbeginn zuversichtlich, dass er nun freigesprochen werde: "Das ist einer der größten Justizskandale der Nachkriegsgeschichte". Sollte sie Recht behalten, wäre der Fall neben den irreversibel beschädigten Biografien von Justizopfern wie Gustl Mollath, Günther Kaufmann und Horst Arnold ein weiterer justizieller Super-GAU.
Wann ist ein Urteil "falsch"?
Wie das neue Verfahren ausgeht, bleibt abzuwarten. Schon jetzt ist es aber an der Zeit für eine neue Debatte über ein justizielles Tabuthema – das Fehlurteil. Es geht damit um einen ebenso großen wie nebulös-unscharfen Begriff. Der Jurist Toni Böhme schlägt in seiner Dissertation über "das strafgerichtliche Fehlurteil" ein differenziertes Begriffsverständnis vor: Ein Fehlurteil im engeren Sinne bedeutet für ihn "eine gerichtliche Entscheidung, die der forensischen (gerichtlich ermittelbaren) Wahrheit nicht entspricht […]." Dem Gericht müsse "ein kausaler und vermeidbarer Fehler entweder bei der Sachverhaltsermittlung oder bei der Rechtsanwendung unterlaufen sein, der sich auf den Schuldspruch oder auf die Strafzumessung bezieht."
Bereits mit dieser Definition legt er eine Grundlage, die Hoffnung macht: Bei Fehlurteilen handelt sich nicht um einen stets unvermeidbaren, systemimmanenten "Kollateralschaden des Rechtsstaats". Fehler könnten verhindert werden. Sich hierum immer wieder zu bemühen, ist wichtig – nicht nur, um Menschen vor unrechtmäßiger Inhaftierung zu schützen, sondern auch um nachhaltige Schäden für "das Vertrauen in die Justiz und die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats" abzuwenden, so formulieren es die Strafrechtsprofessoren Stephan Barton, Marieke Dubelaar, Ralf Kölbel und Michael Lindemann in einer interdisziplinären Studie zu Fehlurteilen aus dem Jahr 2018.
Doch welche Wege zur Prävention von Fehlurteilen gibt es? Die strafrechtlich-kriminologische Forschung ist an dieser Frage schon seit einigen Jahren dran.
Fehlurteilsforschung stößt auf Widerstand
Doch die Fehlurteilsforschung hat in Deutschland keine leichte Aufgabe. Sie klagt schon seit Jahren darüber, dass es hierzulande an einer systematischen Erfassung von Wiederaufnahmeverfahren und deren Ausgang fehlt. Es gibt keine belastbaren statistischen Daten zur Häufigkeit justizieller Fehlentscheidungen. Schon vor Jahren haben Strafrechtsprofessoren wie Kölbel und Jörg-Martin Jehle das thematisiert.
Auf Seiten der Justiz stoßen empirische Forschungsprojekte zum Teil auf einen erheblichen Widerstand. So berichtet der frühere Vorsitzende Richter des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof (BGH), Thomas Fischer 2017 auf einer Tagung, dass ein Forschungsprojekts der Strafrechtsprofessoren Barton und Hans Kudlich durch den BGH abgelehnt wurde: "Beim Bundesgerichtshof gibt es für dieses Problem kein Verständnis". Begründet hatte man das mit dem Datenschutz – nach Einschätzung Fischers ein vorgeschobenes Argument.
Aufhellung im "Hinterhof der Strafjustiz"
Auch, wenn die wissenschaftliche Aufhellung dieses "Hinterhof[s] der Strafjustiz" noch am Anfang steht, liegen schon Befunde zur Genese und Prävention von Fehlurteilen vor. Der Tübinger Kriminologe Jörg Kinzig begann bereits 2014 mit einem DFG-geförderten Forschungsprojekt zum "Freispruch nach Untersuchungshaft". Richtig Fahrt aufgenommen hat die interdisziplinäre Debatte 2017 mit den Bielefelder Verfahrenstagen zum Thema "Fehlurteile im Strafprozess". 2019 erschien eine Arbeit von Carolin Arnemann, die basierend auf einer empirischen Erhebung Reformvorschläge für das strafrechtliche Wiederaufnahmeverfahren formuliert. Eine weitere Untersuchung von Barbara Dunkel widmet sich den "Fehlentscheidungen in der Justiz". 2022 beendete das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) das von den Professor:innen Thomas Bliesener, Karsten Altenhain und Renate Volbert durchgeführte und von der DFG geförderte Forschungsprojekt "Fehler und Wiederaufnahme im Strafverfahren".
Aktuell dürfen sich auch Studierende an der FU Berlin und der Georg-August-Universität Göttingen mit möglichen Fehlurteilen beschäftigen. Sie überprüfen im Projekt "Fehlurteil und Wiederaufnahme" mit Hilfe erfahrener Strafverteidiger:innen, ob in den bei ihnen eingereichten Fällen eine Wiederaufnahme des Verfahrens angestrebt werden soll. Das von den Strafrechtsprofessor:innen Kai Ambos, Kirstin Drenkhahn, Stefan König und Carsten Momsen initiierte und wissenschaftlich begleitete Projekt orientiert sich am US-amerikanischen "Innocence-Project". Dieses konnte seit 1992 über 300 Fehlurteile aufdecken. Das deutsche Studierendenprojekt unterstützte schon die Schlussphase des Wiederaufnahmeverfahrens im "Badewannenmordfall". An seinem Ende könnten auch rechtspolitische Anregungen stehen, wie Drenkhahn im Interview mit LTO ankündigte.
Was schützt vor dem justiziellen Super-GAU?
Rechtspolitische Ansatzpunkte ergeben sich schon jetzt mit Blick auf die Ursachen strafgerichtlicher Fehlentscheidungen. Grundlegend erforscht wurden sie von Böhme in seiner Dissertation. Einige der von ihm gefundenen Probleme seien hier exemplarisch benannt: Als Hauptfehlerquellen erkennt er etwa "die Schwäche des Personalbeweises, die polizeiliche Ermittlung, die gerichtliche Aufklärung, die richterliche Überzeugungsbildung und Beweiswürdigung sowie die Ausgestaltung verschiedener gesetzlicher Vorschriften". Damit meint er vor allem falsche Geständnisse, unerkannte Falschaussagen, sonstige falsche bzw. irreführende Beweismittel oder eine falsche anwaltliche Beratung. Hinzu komme, wie so oft, der Personal- und damit Zeitmangel bei der Erledigung von Strafverfahren.
Für eine bessere Prävention von Fehlurteilen schlägt er neben einer Aufstockung des Personals in der Strafjustiz unter anderem die Vermittlung von Kenntnissen der Aussagepsychologie, Forensik und Kriminalistik sowie von fehlurteilsspezifischen Inhalten in der strafrechtlichen Referendar:innenausbildung vor. Viel verändern könnte zudem eine etablierte Fehlerkultur in der Strafjustiz. Die Fehleranfälligkeit des Revisionsrechts vor Augen stellt Thomas Fischer außerdem fest: "Veränderungen des Revisionsrechts und der Revisionspraxis sind notwendig." Große Hoffnung liegt auch auf der Dokumentation der Hauptverhandlung. Ein aktueller Regierungsentwurf sieht eine verpflichtende Tonaufzeichnung und anschließende Transkription der Hauptverhandlung vor. Urteile sollen nicht mehr nur auf der Basis von Erinnerungen und Mitschriften der Richter:innen beraten werden.
Der Fehlurteilsforschung endlich zuhören
Wer sich anlässlich des aktuellen Fehlurteilsverdachts im "Badewannenmordfall" die Frage nach der Prävention von Fehlurteilen stellt, wird bei einem Blick in die strafrechtlich-kriminologische Forschung bemerken: Es mangelt nicht an Ideen. Wir müssen der Fehlurteilsforschung nur endlich zuhören. Der Fall Genditzki ist unser Wake-Up-Call. Ihn ernst zu nehmen, ist eine große Chance für unseren Rechtsstaat. Bundesjustizminister Buschmann sollte nicht nur die geplante Entrümpelung des Strafgesetzbuches, sondern auch die seit Jahren angemahnten Bemühungen um Fehlurteilsprävention beherzt anpacken. Denn hier geht es um nichts Geringeres als das Vertrauen in unseren Rechtsstaat und die Freiheit jedes einzelnen von uns.
Dipl. Jur. Katharina Reisch ist Doktorandin und wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtssoziologie an der Universität Leipzig bei Prof. Dr. Katrin Höffler.
"Badewannenmordfall" und andere Justizopfer: . In: Legal Tribune Online, 01.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52121 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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