Nach divergierenden Entscheidungen des BFH wird die Forderung von jährlich sechs Prozent Zinsen für Steuernachzahlungen wohl bald vom BVerfG überprüft. Welche Folgen das für andere Zinsregelungen haben könnte, analysiert Rahel M. K. Diers.
Wovon der Anleger nur träumen kann, ist für den Fiskus Alltag. Ein Liquiditätsvorteil in Höhe von jährlich sechs Prozent ist auch bei einer optimalen Kapitalanlage nicht zu erreichen. Dieser Zinssatz gilt zwar auch für die Erstattung von Steuern. Tatsächlich nimmt der Fiskus aber unverhältnismäßig mehr durch die Nachzahlungszinsen ein, als er an Erstattungszinsen an den Steuerschuldner zahlt.
Während der 3. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) in einer Ende Februar 2018 veröffentlichten Entscheidung (Urt. v. 09.11.2017, Az. III R 10/16) die verfassungsrechtliche Problematik rund um die Niedrigzinsphase nur oberflächlich behandelt hat, äußerte der 9. Senat des BFH recht eindeutig seine verfassungsrechtlichen Zweifel in einem im Mai 2018 veröffentlichten Beschluss im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (Beschl. v. 25.04.2018, Az. IX B 21/18).
Nun ist es eine Frage der Zeit, bis die Verfassungsmäßigkeit des gesetzlichen Zinssatzes in Höhe von 0,5 Prozent pro Monat auf Steuernachzahlungen und Steuererstattungen (§ 238 Abs. 1 S.1 AO) in Karlsruhe entschieden wird. Dort sind nicht nur zwei Verfassungsbeschwerden zum steuerlichen Zinssatz anhängig (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 3422/17), auch das Finanzgericht wird im Hauptsachverfahren entscheiden müssen, ob es das Verfahren aussetzt und dem BVerfG vorlegt.
Hintergründe der Nachverzinsung
§ 238 Abs. 1 AO geht zurück auf § 5 Steuersäumnisgesetz aus dem Jahr 1961. Auch die damalige Norm sah einen Zinssatz von 0,5 Prozent für jeden vollen Monat vor. Zur Begründung führte der Gesetzgeber das “Bestreben nach Verwaltungsvereinfachung“ an. Durch die verschuldensunabhängige Nachverzinsung im Steuerrecht soll zum einen der Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen abgeschöpft und gleichzeitig der vorhandene Zinsnachteil des Fiskus ausgleichen werden, der entsteht, wenn er den nicht gezahlten Steuerbetrag nicht anderweitig nutzen kann. Problematisch sind die Fälle, in denen Betriebsprüfungen noch Jahre später eine Änderung ursprünglicher Steuerbescheide bedeuten und die Unternehmen Zinsen in erheblicher Höhe zahlen müssen.
Der Gesetzgeber hat im Bereich des Steuerrechts von Verfassungs wegen einen großen Gestaltungsspielraum. Nach den Maßstäben des BVerfG gilt im Steuerrecht die Besonderheit, dass es in der Regel Massenvorgänge des Wirtschaftslebens betrifft. Um praktikabel zu sein, müssen die Steuergesetze Sachverhalte typisieren und in weitem Umfang die Besonderheiten des Einzelfalls vernachlässigen. Für die gesetzliche Typisierung gilt, dass kein atypischer Fall als gesetzliches Leitbild gewählt werden darf.
Der weite Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers wird einerseits durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und andererseits durch das Übermaßverbot (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) begrenzt. Sollte sich eine so einschneidende Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse herausstellen und die Grundlage der gesetzgeberischen Entscheidung in Frage gestellt werden, ist der Gesetzgeber zum Handeln verpflichtet.
Realitätsferner Zinsvorteil
Die Fixierung des Nachverzinsungssatzes hat zur Folge, dass der Liquiditätsvorteil des Steuerschuldners nicht immer realitätsgerecht abgebildet werden kann. Bei Einführung der Vollverzinsung 1990 betrug der Geldmarktzins für übliche Geldanlagen in Form von Monatsgeldern jährlich 9 Prozent. Bis zum Jahr 2012 bewegte sich der Zinssatz noch zwischen etwa 1,5 und 0,5 Prozent im Jahr. Zu Beginn des Jahres 2013 lag der Zinssatz nur noch bei 0,10 Prozent jährlich und ist seither negativ. Auch der Basiszinssatz nach § 247 BGB lag im Jahr 2008 noch bei 3,19 Prozent. Seit dem 01.01.2013 ist er jedoch ebenfalls negativ und hat sich nunmehr bei minus 0,88 Prozent jährlich einigermaßen verfestigt.
Aufgrund der aktuellen Zinsentwicklung ist davon auszugehen, dass sich der Kapitalmarkt auf einen vergleichsweise niedrigen Zinssatz eingependelt hat. Spätestens seit dem 01.01.2013 ist das Niedrigzinsniveau nicht mehr nur als Trend zu bezeichnen.
Soweit das Argument der Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung in Ermangelung eines EDV-Systems in den 70er Jahren noch als Rechtfertigungsgrund für die mit der Vereinfachung durch Typisierung der Verzinsung einhergehenden Ungleichbehandlung überzeugen mochte, ist im Zeitalter der Digitalisierung selbst die Einführung eines variablen Zinssatzes ohne Schwierigkeiten umzusetzen.
Unzweifelhaft entspricht dabei ein marktorientierter Zinssatz mehr dem Gleichheitssatz als eine starre Verzinsung. Hinzu tritt, dass die Nachverzinsung im Steuerrecht durch die Zinsentwicklung eine nicht vorgesehene Funktion einer Strafe angenommen hat. Während der Säumniszuschlag nach § 240 AO und der gesetzliche Verzugszins nach § 288 Abs. 1 BGB die nach Eintritt der Fälligkeit zu vertretene Nichtleistung sanktionieren, soll die steuerliche Nachverzinsung nur eine Kompensation für eine entgangene Kapitalnutzung sein.
Verfassungswidrig seit 2013?
§ 238 Abs. 1 AO war zur Zeit seines Erlasses sicher verfassungskonform. Ob das heute noch vertreten werden kann, ist fraglich. Einiges spricht dafür, dass die Norm ab dem Verzinsungszeitraum 2013 verfassungswidrig wurde. Spätestens dann war ein sehr großzügiger Beobachtungszeitraum des Gesetzgebers vergangen – der ab diesem Zeitpunkt negative Basiszinssatz und der Geldmarktzins für Monatsgehälter nahe Null bestätigt dies. Ab wann genau die Nachverzinsung in Höhe von jährlich sechs Prozent verfassungswidrig geworden ist, darüber lässt sich vortrefflich streiten. Auch der DAV und die BRAK sind sich diesbezüglich einmal mehr uneins. Obschon vor 2013 die Niedrigzinsphase hinreichend stabil war, um den Gesetzgeber eine Handlungspflicht aufzuerlegen, darf nun das BVerfG klären. Eine Verfassungsbeschwerde betrifft nämlich den Zeitraum ab 2005.
Anders als der Bundesgesetzgeber hat der bayerische Gesetzgeber auf die Unverhältnismäßigkeit einer Verzinsungsregelung von sechs Prozent jährlich bei einer anderen öffentlich-rechtlichen Zinsregelung (Art. 49a Abs. 3 Satz 3 BayVwVfG) reagiert und dabei einen variablen Erstattungszinssatz von drei Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz gewählt.
Die Auswirkungen für die Betroffenen sind beachtlich: Statt einer vormaligen Verzinsung von jährlich sechs Prozent muss der Adressat des Rückforderungsbescheids ausgehend von dem derzeitigen Basiszinssatz nur noch 2,12 Prozent Zinsen zahlen. Da der bayerische Freistaat zu den Ländern ohne Neuverschuldung mit solider Haushaltsführung gehört, ist die Einschätzung des bayerischen Gesetzgebers glaubhaft. Wenn er davon ausgeht, dass eine Verzinsung von drei Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ausreichend ist, um den potentiellen Zinsvorteil abzuschöpfen, könnten allein die zwei Prozentpunkte mehr des Bundesgesetzgebers im VwVfG den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum schon überschreiten.
Die Autorin Rahel M. K. Diers ist Rechtsanwältin im Öffentlichen Recht bei Oppenländer Rechtsanwälte in Stuttgart.
BVerfG prüft Zinshöhe: . In: Legal Tribune Online, 24.06.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29327 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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