Wo und was ist hier der Schaden? So lauteten die Grundfragen in der neuen BGH-Verhandlung zum Schadensersatz bei Thermofenstern in Diesel-Pkw. Der BGH schlug eine Schadensersatzform vor, für die er bisher noch keinen griffigen Namen hat.
Vor dem Bundesgerichtshof (BGH) ging es heute um Millionen Dieselfahrzeuge und Milliarden Euro potentieller Schadensersatzansprüche von Dieselkunden bei Fahrzeugen mit Thermofenstern. Thermofenster schalten bei in Deutschland völlig üblichen Temperaturen die Abgasreinigung herunter.
Der BGH erkannte hierin in früherer Rechtsprechung im Gegensatz zur Prüfstandserkennung im VW-Skandalmotor EA 189 keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung. Auch einer Schadensersatzhaftung aufgrund von Fahrlässigkeit erteilte der BGH eine Absage. Nachdem der EuGH eine solche Haftung aber im Grundsatz bejahte, musste nun neu verhandelt werden.
In der heutigen Verhandlung ließ der BGH durchblicken, Käufern von Dieselautos mit illegalem Thermofenster einen Schadensersatzanspruch zuzusprechen, der allerdings – anders als im VW-Urteil von 2020 – nicht auf die Rückabwicklung des Kaufvertrages gerichtet ist, sondern auf den Ersatz einer Art Vertrauensschaden. Dieser könnte auf den etwaigen Minderwert des Dieselautos im Zeitpunkt des Vertragsschlusses abstellen.
Großer Schadensersatz oder nur Minderwertausgleich?
"Das wäre eine Art Differenzhypothesenvertrauensschadensersatz. Leider haben wir dafür noch keinen besseren Namen", so die Vorsitzende Richterin des VIa-Zivilsenats des BGH Dr. Eva Menges in der mündlichen Verhandlung am Montag. Mehrfach sprach sie von "mittlerem Schadensersatz", wollte den möglichen Anspruch gerade nicht als "kleinen Schadensersatz" verstanden wissen. Der Anspruch liefe wohl auf die Wertdifferenz zwischen einem funktionsfähigen Auto ohne unzulässige Abschalteinrichtung und dem tatsächlich erhaltenen Auto mit der Abschalteinrichtung hinaus. Wie sich der Schaden konkret berechnen sollte, blieb diffus. Vor allem die wertmäßige Berechnung eines Autos mit illegaler Abschalteinrichtung dürfte Instanzgerichte vor große Herausforderungen stellen, warfen die Anwälte auf Klägerseite ein.
Im Falle des Schadensersatzes wegen des VW-Motors EA 189 ging der BGH von einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung aus (§ 826 BGB) und sprach den sogenannten "großen Schadensersatz" zu. Das heißt, der Vertrag wurde rückabgewickelt: Käufer erhielten den Kaufpreis abzüglich Nutzungsersatz zurück und mussten hierfür das Auto zurückgeben. Genau dieser weitreichende Schadensersatz soll bei illegalen Abschalteinrichtungen durch Thermofenster wohl nicht gewährt, sondern auf den Minderwert abgestellt werden.
Auch BGH bejaht Möglichkeit des Schadensersatzes bei fahrlässiger Abschalteinrichtung
Der Senat machte deutlich, die Vorgaben des EuGH beachten zu wollen. Er will deutsches Recht so auslegen, dass es den Drittschutz von Zulassungsvorschriften anerkennt, also annimmt, dass diese auch Einzelinteressen von Käufern dienen. Nur so ist der Weg für eine deliktische Haftung wegen bloßer Fahrlässigkeit frei (§ 823 Abs. 2 i.V.m. Schutzgesetzen). Die Annahme des Drittschutzes auch nationaler Zulassungsvorschriften sei im Wege einer europarechtsfreundlichen Rechtsprechung ("effet utile") möglich und nicht "contra legem", widerspreche also nicht geltendem Recht, so Dr. Menges.
Dass es womöglich nicht zu einem Schadensersatz im Sinne einer Rückabwicklung kommen werde, begründete die Senatsvorsitzende mit einer unterschiedlichen Interessenlage auf Käuferebene und mit dem Umstand, dass die europarechtlichen Zulassungsnormen nicht zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit unterscheiden. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist offenbar der Gedanke, dass bei Schutzgesetzen, die keinen Vorsatz voraussetzen, auch die Rechtsfolge für den Schädiger geringer sein kann als bei Verbotsnormen, die – wie § 826 BGB – eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung verlangen.
Andere Rechtsfolge bei gleicher Problematik für Käufer?
Aus Sicht des Käufers eines Dieselautos mit illegaler Abschalteinrichtung ist die Ausgangslage jedoch dieselbe, argumentiert der BGH-Vertreter eines Dieselkunden, Rechtsanwalt Richard Lindner. "Der Käufer hat ein Auto, das nicht den Vorschriften entspricht. Nach Gewährung eines Schadensersatzes hat er immer noch ein Auto, das nicht den Vorschriften entspricht", so Lindner in seinem Bestreben, für eine Rückabwicklung – also einen großen Schadensersatz – zu werben.
BGH-Anwalt Prof. Dr. Matthias Siegmann pflichtete ihm bei. Er begründete dies mit dem EuGH-Urteil, nach dem Käufer von Dieselautos einen Anspruch darauf haben, dass keine illegalen Abschalteinrichtungen im Auto verbaut sind. Daraus ergebe sich auch, dass das Auto "zurück auf den Hof des Herstellers" gestellt werden dürfe, so Siegmann.
BGH-Anwalt Dr. Thomas Winter argumentierte hingegen auf Herstellerseite, dass bislang überhaupt kein Schaden vorliege. Sämtliche Autos mit Thermofenster seien vom Kraftbundesamt genehmigt worden, sie könnten verkauft und genutzt werden. Damit entfalle aktuell ein Schaden. Laut Winter solle im Sinne eines "Spätschadens" höchstens dann ein Schadensersatzanspruch auf Käuferseite entstehen, wenn tatsächlich ein Schaden in der Welt sei. Dies wäre etwa möglich, wenn Behörden doch noch einschritten oder Gerichte Fahrzeuge stilllegen ließen oder Nachrüstungen anordneten. So argumentierte auch BGH-Anwalt Norbert Tretter auf Herstellerseite. Der EuGH habe deutlich gemacht, dass ein Schaden Probleme bei Inbetriebnahme, Verkauf und Zulassung erfordere. All dies sei nicht der Fall.
Urteilsverkündung Ende Juni
Die Senatsvorsitzende betonte mehrfach, sich noch nicht festgelegt zu haben. Die Sympathien des Senats für einen "mittleren Weg" zwischen großem Schadensersatz und Ersatz nur von tatsächlich eintretenden Spätschäden waren jedoch deutlich spürbar.
Sollte das Gericht diesen Weg gehen, wünscht sich Dr. Siegmann "klare Segelanweisungen" des Gerichts. Damit meint er Vorgaben an die Unterinstanzen, wie der Minderwert auszurechnen ist. Angesichts des Umstands, dass sich bereits die prinzipielle Frage stellt, welchen andere hypothetischen Preis als 0,00 Euro Käufer überhaupt für ein Auto zahlen sollten, dem jederzeit die Stilllegung droht, eine alles andere als lapidare Frage.
Die Verhandlung sei aufgrund ihrer Intensität "Werbung für die Rechtsanwaltschaft am Bundesgerichtshof" gewesen, lobte die Senatsvorsitzende Dr. Menges und versprach, sich mit sämtlichen Argumenten der Parteien intensiv auseinanderzusetzen. Der Senat terminierte nach circa fünfstündiger Verhandlung die Urteilsverkündung auf den 26. Juni 2023, 12.00 Uhr.
Bis zu diesem Zeitpunkt hat der VIa-Zivilsenat dann auch Zeit, sich einen kürzeren, griffigeren Namen für die avisierte neue Art des Schadensersatzes auszudenken.
BGH tendiert nun zum Schadensersatz bei Thermofenstern: . In: Legal Tribune Online, 08.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51720 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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