2/3: Eine deutsche Lesart der Genfer Flüchtlingskonvention
Die Forderung nach einer Wohnsitzauflage bei einem Sozialleistungsbezug wurde in Deutschland über lange Jahre praktiziert. In Form von wohnsitzbeschränkenden Nebenbestimmungen zur Aufenthaltserlaubnis wurden Flüchtlinge, die Sozialleistungen beziehen, jeweils zum Aufenthalt in einem bestimmten Bundesland verpflichteten.
Diese Praxis erkannte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Jahr 2008 als Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention – allerdings nicht aufgrund des Art. 26 GFK zum Freizügigkeitsrecht, sondern wegen Art. 23 GFK zur öffentlichen Fürsorge, weil die damalige Praxis die Wohnsitzauflage an den Sozialleistungsbezug knüpfte. Dies klingt sehr technisch und auf den ersten Blick wenig ausschlaggebend, hat jedoch greifbare Auswirkungen, weil Art. 23 für die öffentliche Fürsorge eine Inländergleichbehandlung vorschreibt (anerkannte Flüchtlinge also mit Deutschen gleichstellt), während Art. 26 GFK zur Freizügigkeit eine Gleichstellung mit anderen Ausländern vorgibt und damit hinter der Inländergleichbehandlung zurückbleibt.
Zur Begründung verwies das BVerwG zwar zutreffend darauf, dass die GFK nach völkerrechtlichen Grundsätzen auszulegen sei. Eine Auseinandersetzung mit der Staatenpraxis oder internationalen Urteilen unterblieb jedoch ebenso wie eine Vorlage an den EuGH, obwohl dieser zum Verhältnis von Art. 29 und 33 der Asyl-Qualifikations-Richtlinie, die mit Art. 23 und 26 GFK übereinstimmen, bisher nicht geurteilt hat. Eine Vorlage wäre jedoch nötig gewesen, weil man durchaus argumentieren kann, dass die Freizügigkeitsregeln als lex specialis die Inländergleichbehandlung bei der öffentlichen Fürsorge überlagern, soweit es um Wohnsitzauflagen geht.
BVerwG entschied (zu) selbstständig
Diese Spezialität weist das BVerwG kurz und knapp zurück – ausgehend von der Annahme, dass das Gebot der Inländergleichbehandlung bei der öffentlichen Fürsorge nach Art. 23 GFK nicht nur die Leistungshöhe betrifft, sondern auch die Modalitäten der Leistungsgewährung, also ganz konkret die freie Wahl des Wohnorts, wo man Sozialleistungen beansprucht. Auch dieses Ergebnis wird nicht in die internationale Praxis eingebettet und stattdessen nur auf eine frühere Entscheidung aus dem Jahr 2000 verwiesen, die sich im Kern mit dem Europäischen Fürsorgeabkommen befasste, das einen strengeren Wortlaut verwendet. Es handelt sich also um eine sehr deutsche Lesart der GFK.
Für die aktuelle Diskussion folgt hieraus, dass die BVerwG-Rechtsprechung ein wichtiges Indiz dafür ist, dass eine Wohnsitzauflage bei Sozialhilfebezug konventionswidrig wäre. Sicher ist dies jedoch nicht, das Ergebnis könnte künftig anders ausfallen. Doch selbst, wenn das Gericht seine Meinung nicht änderte (und vom EuGH auch nicht hierzu gedrängt würde), wäre eine Wohnortzuweisung möglich. Das BVerwG erkannte nämlich ausdrücklich, dass eine Wohnsitzauflage aus nicht näher bezeichneten "integrationspolitischen Gründen" möglich bleibt, weil solche Auflagen, die nicht an den Sozialleistungsbezug anknüpfen, an der weniger weitreichenden Freizügigkeitsgarantie der GFK und Asyl-Qualifikations-Richtlinie zu messen sind.
Daniel Thym, Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge: . In: Legal Tribune Online, 14.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18137 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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